Mademoiselle Chambon (#) von Stéphane Brizé. Frankreich, 2009. Vincent Lindon, Sandrine Kiberlain, Aure Atika, Arthur Le Houérou, Jean-Marc Thibault

   Ich finde immer wieder, dass solche Filme die viel größere Kunst sind im Vergleich zu den gehypten und millionenschweren CG-Produkten, die nun fast wirklich jeder inszenieren kann, weil das meiste ja doch nur Technik ist. Sogenannte kleine, einfache Geschichten, Geschichten aus dem Alltag und mit alltäglichen Leuten laufen ja immer Gefahr, uns zu nerven, weil sie uns zu nahe sind, uns zu sehr an den eigenen Alltag erinnern, und dem will man ja bekanntlich im Kino möglichst weit entkommen.

   Ich nicht, und deshalb liebe ich Filme wie diesen, sogenannte einfache, kleine Filme, Filme aus dem Alltag und mit alltäglichen Leute. Stéphane Brizé hat vor ein paar Jahren schon bewiesen, dass er ein Meister der intimen, etwas sperrigen Romanze ist, als er den wunderbaren „Man muss mich nicht lieben“ machte. Sein neuer Film ist mindestens genauso wunderbar, und wieder geht es im Kern nur um einen Mann und eine Frau, umgeben von einem sehr überschaubaren Milieu, diesmal in einer zudem sehr überschaubaren südfranzösischen Kleinstadt. Dort lebt Jean mit Frau und Sohn, verdient sein Auskommen als Maurer und führt alles in allem eine solide und scheinbar zufriedenstellende Existenz. Als er Véronique Chambon kennen lernt, die Lehrerin seines Sohnes Jérémy, gerät seine Gefühlswelt, ansonsten ein eher ruhiger Fluss, plötzlich in Aufruhr. Er verliebt sich in die aparte Frau, kommt völlig aus dem Gleichgewicht, will schon fast mit ihr fortgehen, doch schon auf dem Bahnhof, mit den Koffern in der Hand und sie wartend oben auf dem Bahnsteig, werden seine Schritte langsamer...

   Wie gesagt, eine Geschichte, hundertmal erzählt schon, ein Mann und eine Frau, einer der beiden gebunden, und der muss sich nun entscheiden, der hat natürlich viel mehr zu verlieren als sie, die wie eine Nomadin von Schule zu Schule zieht, niemals länger bleibt als ein Jahr, ungebunden und wohl auch wurzellos, denn ein kurzes Telefonat mit der Frau Mama verrät, dass ihre Familie von Kälte, Standesdünkel und Distanz geprägt ist. Ganz anders als die von Jean. Der hat eine liebe Frau, ein hübsches Haus, und einen Job, der ihn erfüllt, so dass er den Kindern aus Jérémys Klasse davon berichten kann, und zwar mit Stolz und zunehmender Begeisterung, die auch Véronique berührt, und so gibt es den ersten Anstoß. Die beiden kommen aus ganz unterschiedlichen Welten: Er baut für sie ein neues Fenster ein, sie spielt ihm auf seinen Wunsch ein Stück auf der Violine vor. Sie schaut ihm beim Handwerken zu, er beobachtet ihr Geigenspiel. Er ist der wortkarge, erdige, etwas linkisch wirkende Typ Mann, der natürlich niemals über seine Gefühle spricht und sie sich vermutlich auch nur selten bewusst macht. Sie ist die feinnervige, kunstsinnige Frau, die allerdings auch recht tief in ihrem Schneckenhaus verkrochen lebt, und aus dieser Gemeinsamkeit bei allen Unterschieden bezieht der Film viele faszinierend intensive Momente, in denen sich die beiden begegnen, nahe sind und dennoch nie richtig zusammen kommen, in denen ihre Gefühle keinen Ausdruck finden als hilfloses Schweigen, unsichere, abwechselnde Blicke rüber zum anderen, nur zweimal kommt es zu einer Annäherung, körperlich gesehen. Brizé hat gerade diese Momente meisterlich gestaltet, hat vor allem die vielen Schattierungen dieses Schweigens einbezogen,  das mal schüchtern ist, auch mal quälend, das häufig einen erotischen Unterton hat, manchmal aber auch lastet, wo dringend ein paar klärende Worte nötig wären, und man auch als Zuschauer regelrecht darum fleht. Das ist zum einen großartig, ebenso  gefühlvoll und doch dezent inszeniert, das ist zum anderen aber auch ganz großartig gespielt von Sandrine Kiberlain und Vincent Lindon, die eine bestechende Chemie entwickeln und ihre Szenen derart brillant gestalten, dass man sich manchmal wünscht, sie würden ewig dauern. Aber auch das Drumherum hat seine Berechtigung, die Szenen aus Jeans Familienleben, das häufig wortlose, aber durch nicht in Routine erstarrte Miteinander mit Frau und Kind, die kurzen Momente aus dem beruflichen Alltag der beiden, oder Jeans Fürsorge für den alten Vater, den er pflegt und den er zum Bestatter begleitet. Immer wieder gelingt es Brizé, anhand dieser unspektakulären Szenen zu verdeutlichen, wie dramatisch Jean die plötzliche Verwirrung erlebt, nur findet dieses Drama in ihm statt und kommt nur selten an die Oberfläche, ganz wie bei Véronique auch.

 

   Alles in allem ein Musterbeispiel für den „großen kleinen“ Film, ein vollendet balanciertes, sowohl visuell wie auch musikalisch wunderschön komponiertes Liebesdrama, das ohne Pathos, ohne Melodrama und ohne künstliche Aufblähungen auskommt, das seine faszinierende Intensität ganz aus den zwischenmenschlichen Spannungen bezieht, und diese Spannungen sind jederzeit spannend, ohne dass sie zusätzlicher Effekte bedürfen. Die Franzosen haben in den letzten Jahren immer wieder solche Meisterstücke gemacht, und ich kann mich nicht satt sehen daran. Muss ich ja auch nicht. (25.8.)