Shahada von Burhan Qurbani. BRD, 2010. Maryam Zaree, Jeremias Acheampong, Carlo Ljubek, Vedat Erincin, Marija Škaričić, Sergej Moya, Anne Ratte-Polle, Nora Abdel-Maksoud
Ein paar Tage aus dem Leben einiger Muslime in Berlin: Maryam quält sich mit einer Abtreibung, blutet, hat Schmerzen, schleppt sich mit ihrer Freundin durch die Nacht, müsste eigentlich dringend ins Krankenhaus, will aber nicht, weil vor allem ihr Vater Vedat, ein angesehener Imam, nichts wissen darf. Ihr Ex ist ein debiler Idiot, und als die Situation immer dramatischer wird, hat sie plötzlich religiöse Halluzinationen und erschreckt die Leute aus der Gemeinde durch radikal fundamentalistisches Gerede, was vor allem den Papa in Bedrängnis bringt, denn die Männer verlangen von ihm natürlich, dass er seine eigene Tochter im Griff hat. Zumal Vedat alles andere als ein Hardliner ist, sondern ein verständnisvoller, milder Mann.
Samir hat nigerianische Wurzeln, arbeitet in den Hallen des Großmarkts, will seinen Glauben gewissenhaft und ernst leben und nimmt deshalb Koranunterricht bei Vedat. Er lernt Daniel kennen, die beiden verlieben sich, und Samir gerät in größte Nöte, denn einerseits kann er seine Gefühle nicht leugnen und unterdrücken, andererseits würde seine gesamte Umgebung – alles Jungs von der Machosorte – null Toleranz für einen schwulen Muslim zeigen.
Ismail ist Bulle und trifft bei einer Passkontrolle die Bosnierin Leyla wieder, die er einst bei einer Schießerei so schwer verletzte, dass sie ihr ungeborenes Kind verlor. Er verliebt sich erneut in Leyla, ist aber hin- und hergerissen zwischen ihr und seiner Familie, denn er hat auch Frau und Kind zuhause.
Am Ende bleiben die drei Geschichten offen, das Leben geht weiter, die Geschichten auch, in die eine oder andere Richtung, wie genau, kann man nicht wissen. Die Wege der Hauptfiguren kreuzen und schneiden sich immer wieder im Viertel zum Ramadan, sodass es zu einem locker gewobenen Netz an Beziehungen, Nachbarschaften und flüchtigen Zusammentreffen kommt. Das hat in diesem Film nichts Arrangiertes, nichts Künstliches oder Konstruiertes, sondern fließt wie beiläufig ein in die Milieuskizzen aus dem Kiez, die zusammen genommen mehr ergeben als die einzelnen Teile. Außerdem hat Qurbani es vorzüglich verstanden, dennoch sehr viel Nähe zu den Personen herzustellen, denn er inszeniert mit äußerster Intensität und Konzentration, gefühlvoll und engagiert einerseits, dennoch auch mit einem gewissen Außenblick auf die Verhältnisse, auf das Leben dieser Leute, deren größtes Problem nicht mal darin zu bestehen scheint, sich irgendwie mit der deutschen Gesellschaft zu arrangieren, sondern die schon genug mit sich selbst und den Folgen ihrer Entfremdung durch Emigration zu tun haben, und damit, einen Weg zu finden zwischen ihren kulturellen und religiösen Wurzeln, zu denen sie sich durchaus bekennen und die sie nicht verleugnen wollen, und der westlichen Moderne, die ihnen ganz andere Werte und Normen vorgibt. Mayram hat sich diesen Werten scheinbar sehr stark angenähert, ein normales, modernes junges Mädchen zwischen Disco und Mädchenclique, das plötzlich die Orientierung und den Halt verliert und radikal in die andere Richtung irrt, eher auf der Suche nach Sinn denn aus wirklicher Überzeugung. Auch Samir ringt um diesen Sinn, möchte gern seiner Mutter nachfolgen und ein „guter“ Muslime sein, wird aber durch das Treffen mit Daniel vollkommen in seinem Vorsatz erschüttert. Kulturclash hat hier keine komische Note, hat auch nichts mit schillerndem Großstadtleben zu tun, alles ist im Gegenteil ziemlich ernst und existentiell, auch Ismails Begegnung mit Leyla, die ihn jäh aus aller scheinbaren Sicherheit herausreißt und ihn fast von der Familie trennt. Er ist der weltlichste der Hauptpersonen, keiner, der seiner Religion viel Bedeutung beimessen würde, keiner, dem sein Glaube über die quälenden Schuldgefühle hinweggeholfen hat. Nur findet er auch bei der hart und bitter wirkenden Leyla wenig Trost, die in ärmlichsten Verhältnissen vegetiert und sich ohne jede Perspektive von einem Gelegenheitsjob zum nächsten schleppt.
Dies ist auch ein Porträt von Berlin, auch ein Porträt von der BRD heute, sehr dicht und dunkel gestaltet, großartig gespielt und bei alledem Engagement angenehm frei von allzu plakativen Botschaften. Das geht ohne Probleme, denn die Emotionen und Gedanken kommen von ganz allein beim Zuschauen, bei mir jedenfalls, denn als Liebhaber von Alltagsfilmen, denn ich fand diesen Film ganz großartig, keinerseits sehr klar, ruhig und dicht, andererseits voller Spannung und Gefühl, ein Film, der uns keine „aktuelle Thematik“ aufdrängen will, der natürlich Konflikte kreiert, um etwas zu zeigen und zu sagen, der dabei aber immer glaubwürdig bleibt. In den letzten Jahren sind doch einige Filme nach vorn gekommen, die direkt aus der multikulturellen Szene in den deutschen Großstädten stammen, und da gibt es noch eine ganze Menge Geschichten zu erzählen, und ich hoffe sehr, dass das auch geschehen wird. (30.9.)