Sin nombre (#) von Cary Joji Fukunaga. Mexiko/USA, 2009. Paulina Gaitan, Edgar Flores, Kristyan Ferrer, Tenoch Huerta Mejia, Luis Fernando Peña, Diana García, Gerardo Taracena, Guillermo Villegas
Etwas verschreckt und verschüchtert wackelt eine Handvoll blasser Ostwestfalen aus dem Kinosaal zurück in den trüben Frühlingsabend – verschreckt, aber auch erleichtert, um genau zu sein. Verschreckt von dem, was da in den letzten knapp einhundert Minuten von der Leinwand aus über sie hereingebrochen war, erleichtert über die anschließende Erkenntnis, dass diese Welt gottlob Lichtjahre von der eigenen entfernt ist und man sich höchstens mal in Dankbarkeit üben könne über das sichere und wohlbehütete Leben, dass einem hierzulande bei aller angebrachten Schimpferei geboten wird. So erging es jedenfalls meinem ewigen Mitstreiter und mir, sicherlich aber auch den anderen wackeren Herrschaften, die offenbar auch an Kino weitab gängiger Normen und Horizonte interessiert sind.
„Sin nombre“ zeigt in der Tat eine Welt, die so weit von unseren eigenen Erfahrungen und Vorstellungen entfernt ist, die aber dennoch nicht weniger real und alltäglich ist und uns vor allem daran erinnert, dass Freiheit, Sicherheit, Wohlstand und ein halbwegs stabiles Rechtssystem alles andere als selbstverständlich sind. Erzählt werden im Grunde zwei ineinander verflochtene Geschichten. Zum einen die Geschichte der Migrationswelle aus Lateinamerika in Richtung Norden in das noch immer gelobte Land. Zum anderen die Geschichte der mächtigen und ebenso brutalen Gangs, die das Leben in den Ländern dort auf erschreckende Weise kontrollieren und beherrschen. Die beiden Handlungsstränge kommen auf einem langen Zug in Richtung mexikanische Grenze zusammen: Dort ist Sayra aus Honduras gemeinsam mit Vater und Bruder auf dem Weg in ein besseres Leben, das irgendwo in New Jersey stattfinden soll. Und dort ist Casper auf der Flucht vor seiner Gang, der gefürchteten Mara Salvatrucha, von der er sich lossagt, als sie seine Freundin tötet, wofür er sich schließlich rächt, in dem er den Anführer und Mörder tötet, was ihn selbst wiederum zum Tode verurteilt, wie er genau weiß. Sayra und er finden zusammen und kämpfen sich zur Grenze durch, doch dort trennt sich ihr Weg. Er wird wie erwartet von der Gang hingerichtet, sie schafft es über den Fluss in die Staaten und ruft von dort ihre Verwandten im Norden an.
Das krasse und konsequente Ende eines krassen Films, der erschreckend wilde Gewalt, ruppige Milieustudien und eine sanft angedeutete Liebesgeschichte zu einem mitreißenden und sehr glaubwürdigen Film formt, der sehr wohl kommerzielle Absichten hat und die auch gar nicht verbirgt, der aber dennoch jederzeit als alarmierende und drängend intensive Zustandsbeschreibung des Lebens in Mittelamerika herhalten kann. Er befindet sich mittlerweile in einer eindrucksvollen Tradition großartiger Filme aus Mexiko oder auch Brasilien, die sich aktueller gesellschaftlicher und politischer Probleme widmen und gleichzeitig fulminantes Kino bieten. So auch „Sin nombre“, der als düsteres Gangdrama aus dem südmexikanischen Ghetto anfängt, dann die Geschichte der wandernden Familie aus Honduras hinzunimmt, und quasi als Roadmovie alles unter einen Hut packt und zum blutigen Finale führt. Das ist äußerst spannend und kraftvoll erzählt, randvoll mit eindrucksvollen und zugleich bestürzenden Impressionen, ohne Schnörkel oder großes Pathos erzählt, toll gespielt und inszeniert, und wer sich etwas um die Geografie kümmert, wird erfahren, welch enormes Ausdehnungsgebiet der Machtbereich dieser Gang hat, über tausende von Meilen in einem dichten Netzwerk, dem Caspar schließlich nicht entkommt. Was von den Gangmitgliedern selbst gepriesen wird als Sicherheit und Zusammenhalt einer familienähnlichen Struktur, hat natürlich vor allem mit Terror und Gewalt zu tun, mit rücksichtslosen Territorialkämpfen, barbarischen Aufnahme- und Bestrafungsritualen und einer allgemeinen Haltung, die sich an keinerlei Gesetze und Regeln gebunden fühlt, sondern gnadenlos das Gesetz des Stärkeren als einzige Grundlage heranzieht. Ich musste während des Films oft an Luis Buñuels sechzig Jahre alten Klassiker „Los Olvidados“ denken, der zwar vieles schon vorwegnimmt und vorausdeutet, die endlose Eskalation der Gewalt in dieser Form jedoch unmöglich erahnen konnte. Immerhin gibt es nun auch in neuerer Zeit engagierte, starke Filme, die sich dieses Themas erneut annehmen, die klar und deutlich Stellung beziehen, nicht nur zur Lage in Lateinamerika, sondern auch zur Rolle der USA dort unten, denn die prägt die Verhältnisse maßgeblich, und obwohl nicht mal immer von den Amis direkt die Rede sein muss, sind sie als Konsumenten und Wirtschaftsmacht jederzeit im Hintergrund präsent. Was sich in diesen Ländern abspielt, ist schlicht eine grausame menschliche Katastrophe – dann schon lieber OWL... (17.5.)