De usynlige (Troubled Water) von Erik Poppe. Norwegen, 2009. Pål Svere Valheim Hagen, Trine Dyrholm, Ellen Dorit Petersen, Fredrik Grøndahl, Trond Espen Seim
Schuld und Sühne, Trauer, Verzweiflung, Vergebung, Vertrauen und Angst, der Kampf um einen Neuanfang, der Kampf gegen die Schatten der Vergangenheit – es geht mal wieder ums Ganze oben im Norden, nur um die absolut elementaren Dinge des Lebens, und so gut wie jeder Film wäre bei dem Versuch, diese Bürde zu schultern, locker in die Knie gegangen. Nicht so die alten Skandinavier, die Experten auf dem Gebiet des wirklich schweren Dramas, die es immer wieder fertig bringen, auch solche Geschichten so zu erzählen, dass man als Zuschauer nicht in einem Meer aus Trauer und Leid untergeht. Das allein ist schon große Kunst, aber auch abgesehen davon ist dies ein sehr eindrucksvoller Film.
Ein Mann und eine Frau. Der Mann kommt gerade aus dem Knast, wo er eine längere Strafe für Kindstötung verbüßt hat. Der hat sich zum Kirchenmusiker ausbilden lassen und erhält eine Chance als Organist in einer Osloer Gemeinde. Rasch verliebt er sich in eine Pfarrerin, die allein mit ihrem kleinen Sohn lebt und von der Vergangenheit des Mannes zunächst nichts ahnt. Das ändert sich, als die Frau auf den Plan tritt. Sie ist die Mutter des Jungen, den der Mann damals vermutlich tötete, und als sie nun den Mörder ihres Kindes wieder auf freiem Fuß sieht, ist sie außer sich, warnt die Pfarrerin vor der Gefahr für ihren Sohn und greift zu noch drastischeren Maßnahmen, um den Mann zur Rede zu stellen und nach Jahren quälender Ungewissheit endlich zu erfahren, was mit ihrem Sohn passiert ist.
Wie es danach wohl weitergehen mag mit den beiden, bleibt offen. Sie zieht vielleicht mit ihrem Mann und den beiden Adoptivtöchtern in ihre Heimat Dänemark, wo er einen neuen Job hat. Er kann vielleicht die Pfarrerin davon überzeugen, ihm eine zweite Chance zu geben, gerade sie, die sonst immer von Vergebung und christlicher Nächstenliebe doziert. Die Aussprache zwischen dem Täter und der Mutter des Opfers war überfällig, ohne sie hätten beiden nicht weiter leben, sich niemals befreien können. Sie weiß endlich, was geschehen ist, er hat endlich seine Schuld eingestanden und zwar dem Menschen, dem er am meisten Schmerzen zugefügt hat. Jan und Agnes haben in den Jahren nach der Tat nicht richtig gelebt, er wurde im Gefängnis wie alle Opfer des Systems, sie hat vergeblich versucht, ein neues Leben aufzubauen. Die Wucht, mit der in Agnes all die aufgestauten und längst nicht mehr differenzierten Gefühle buchstäblich aufkochen wie in einem Vulkan, kann niemand auffangen, nicht ihr Mann, natürlich nicht ihre zunehmend verängstigten Töchter und sie selbst erst recht nicht. Sie wird davongetrieben, verliert vollkommen den Kopf, beobachtet Jan auf Schritt und Tritt, attackiert den alten Pfarrer, der von Jans Vergangenheit weiß und ihm eine zweite Chance geben will, entführt schließlich selbst den kleinen Sohn der Pfarrerin Anna, ohne noch genau zu wissen, was sie tut. Erst als es beinahe ein zweites Mal zu einem Unglücksfall gekommen wäre und sich Jan endlich im Gespräch stellt, kann sie fragen, was sie seit Jahren wissen will.
Der Film teilt sich auf in seine und in ihre Perspektive, er zeigt, wie Jan langsam wieder Fuß fasst im bürgerlichen Leben, wie er den Kontakt zu Anna aufbaut, wie er sich ihrem Sohn gegenüber zunächst abweisend und reserviert verhält, dann aber schnell seine Zuneigung gewinnt, wie er als unkonventioneller Organist glänzt und sogar „Bridge over troubled water“ zu neuem Leben erweckt, kurz wie er versucht, sich eine neue Existenz aufzubauen. Danach kommt Agnes an die Reihe, ihr Leben in der Familie, der Entschluss ihres Mannes, nach Dänemark zu ziehen, unter anderem auch, um die schlimmen Erinnerungen zurück zu lassen, seine erste Begegnung mit Jan und dann schließlich ihre fieberhafte Suche bis hin zum Finale an jenem Fluss, in dem ihr Sohn einst starb. Indem er die Erzählung auf diese Weise teilt, trifft der Regisseur auch eine Entscheidung bezüglich der Anteilnahme, der Identifikation. Er schlägt sich nicht auf eine Seite, bezieht keine einseitige Position, verurteilt auch nicht einseitig. Jans Tat ist schrecklich und wird ihn immer prägen, doch wirkt sein Versuch, ein neues Leben anzufangen, überzeugend. Agnes hingegen verletzt bei ihrem Ringen um Vergangenheitsbewältigung etliche andere Menschen, lässt alle Rücksicht hinterwegs, nur um ans Ziel zu kommen - wiederum verständlich, wenn man bedenkt, wie lange sie in traumatischer Ungewissheit leben musste. Zwischen diesen beiden faszinierend starken Polen bewegen sich die übrigen Figuren, jede für sich nuanciert und stark geschrieben. Drehbuch und Regie sind unerhört dicht, intensiv, spannend, und die zwei Stunden Spielzeit vergehen wie im Flug, ich hätte sogar noch eine weitere Stunde lang gern zugesehen, was aus Agnes und Jan nun wird. Der größte Verdienst liegt einmal mehr bei den Darstellern, die schlicht grandios sind, alle miteinander, und maßgeblich dafür sorgen, dass der Film nicht zu sehr an seiner Schwere trägt, dass auch der eine oder andere etwas zu plakative Satz noch glaubhaft rüberkommt, und dass man vor allem wirklich Anteil nimmt an dem, was geschieht und an den beteiligten Menschen, von denen jeder ihre oder seine Motive und Gründe und Berechtigungen hat, und es ganz einfach kein Richtig oder Falsch gibt. Wenn man es mal feierlich ausdrücken will, kann man den Film zweifellos als einen Appell an die Nächstenliebe verstehen, und ich könnte mir keinen überzeugenderen, eindrucksvolleren vorstellen. (31.3.)