Quartier lointain (Vertraute Fremde) von Sam Garbarski. Frankreich/Belgien/BRD, 2010. Pascal Greggory, Léo Legrand, Jonathan Zaccaï, Alexandra Maria Lara, Laura Moisson, Laura Martin, Pierre-Louis Bellet

   Zeitreisen sind ein alter Traum der Menschheit, nicht nur neugierige Reisen in die Zukunft à la H.G. Wells oder Jules Verne, sondern fast noch eher Reisen in die Vergangenheit mit dem Ziel, Schicksal zu spielen, etwas Schlimmes aufzuhalten oder zu verhindern, kurz, den Lauf der Dinge beeinflussen zu können. Einmal nicht ohnmächtig sein, ausgeliefert, einmal nicht die Fehler bereuen müssen, die man gemacht hat, einmal die Chance ergreifen, die man damals verpasst oder gar nicht gesehen hat, einmal Lenker der eigenen Geschicke sein. So hätten wir’s gern mit unseren Allmachtphantasien, und dementsprechend häufig findet sich dieses Motiv mittlerweile in Kinofilmen, so auch in diesem, der auf einem japanischen Manga basiert und tatsächlich hier und da noch die irrealen, phantasiehaften Elemente in den Film, übernimmt, die Art und Weise, wie sich die Handlung unerwartet entwickelt, wie der Zufall die Dinge lenkt, wie sie einfach geschehen, ohne dass man nach dem Wie und Warum fragen sollte.

   Der Comiczeichner Thomas steigt einfach in den falschen Zug, landet plötzlich in seinem Heimatort, einem Kaff fernab in den Bergen, das er zuletzt bei der Beerdigung seiner Mutter vor dreißig Jahren besuchte, kippt auf dem Friedhof just an ihrem Grab um und wird über vierzig Jahre in der Zeit zurückgeschleudert, ist plötzlich ein vierzehnjähriger Schüler und Pubertierender, allerdings mit der Erfahrung und der Perspektive des erwachsenen Mannes, und hat möglicherweise die Chance, seinen Vater daran zu hindern, die Familie am Tag seines Geburtstags zu verlassen, für immer zu verschwinden und die Familie in Trauer und Not zu stürzen.

   Neben diesem dramatischen Erzählstrang gibt es aber glücklicherweise noch einen anderen, in dem Thomas seine Jugend wieder entdeckt, das Rumhängen mit den Kumpels, Rauchen, Mädels und Schmuddelheftchen, die erste Liebe von fern in der Schule, das Leben in jenem Ort, der damals die ganze Welt war, der aber nun in der Rückschau nur noch ein kleines Nest ist, das in Thomas’ aktuellem Leben keinerlei Rolle mehr spielt. Thomas lernt also auch, den Wert mancher Dinge neu zu erkennen, auch den Wert der Familie, und so kehrt er am Schluss als Erwachsener offenbar mit neuem Bewusstsein und neu gewonnener Liebe zu den Seinen nach Paris zurück. Das hört sich alles ein wenig feierlich an, ist es auch, und wäre in den Händen eines jeden US-Regisseurs zu kaum erträglichem Schmalz geworden, keine Frage. Sam Garbarski aber gelingt mit äußerst feinem Fingerspitzengefühl eine wohl ausgewogenen Balance aus ernsten und leichten, komischen Elementen, die einander bestens ergänzen und sich in ihrer Wirkung gegenseitig verstärken. Manche Szenen haben eine fast Truffautsche Zärtlichkeit im Blick auf die heranwachsenden Jungs und ihren Kampf mit sich selbst und jenen fremden, heiß begehrten Geschöpfen auf der anderen Seite des Schulhofs, andere Szenen beziehen ihren Charme aus dem schrägen Miteinander des Vierzehnjährigen mit den Erfahrungen und Ansichten des Fünfzigjährigen, wieder andere Szenen sind eher bitter-süß, wenn Thomas einst versäumtes nachholt, seiner kleinen Schwester mehr Fürsorge und Aufmerksamkeit widmet, der Mutter häufiger mal was Nettes sagt oder ihr das zu geben versucht, was der Vater ihr nicht geben konnte oder wollte. Dessen Geschichte wird hier bruchstückhaft aufgerollt, seine Vergangenheit in der Résistance, vor allem wie die Verbindung zu seiner Ehefrau und sein Leben als Schneider zustande kam, und erst am Schluss versteht Thomas, dass der Vater nicht anders kann als wegzulaufen, um endlich mal ein frei erwähltes Leben für sich zu haben, und dass er ihn deshalb auch nicht aufhalten darf. Es gibt ein paar sehr gefühlvolle und intensive Szenen zwischen Vater und Sohn, in denen Thomas immer wieder versucht, dem in sich verschlossenen Vater nahe zu kommen, ihn dazu zu bringen, über sein Leben und seine Wünsche und Träume zu sprechen, nur spricht hier natürlich der erwachsene Thomas aus dem Jungen, und der Vater reagiert folglich mit Befremden, weil er erstens diese Fragen nicht beantworten will und weil er zweitens dieses Verhalten von seinem Sohn nicht kennt und nicht versteht. Es kann also keine Verständigung geben, nicht vom Jugendlichen zum Erwachsenen und auch nicht zwischen den beiden Familienvätern, die hier eigentlich miteinander sprechen, und diese eigenartig irritierende Konstellation gibt den Szenen doch eine stark emotionale Wirkung.

 

   Künstlerisch ist das Ganze eindrucksvoll umgesetzt, in schönen, fließenden Bildern und der sphärischen Musik von Air, die ja sowieso geniale Filmsoundtracks machen (siehe „The Virgin Suicides“) und das auch viel häufiger machen sollten. Die Darsteller sind sehr gut ausgewählt, und gerade die jungen machen ihre Sache toll. Ein Film mit Stil und viel Gefühl und einem Thema, dass mir irgendwie auch etwas nahe gegangen ist, auf jeden Fall gute Unterhaltung mit Tiefgang. (21.5.)