Les herbes folles (Vorsicht Sehnsucht) von Alain Resnais. Frankreich/Italien, 2009. Sabine Azéma, André Dussolier, Anne Consigny, Emmanuelle Devos, Mathieu Almaric
Hoch in den Achtzigern ist der alte Bretone mittlerweile, seit satten fuffzig Jahren macht er Langfilme, und bis auf zwei habe ich die alle gesehen – den einen nicht, weil er eine Rarität aus den 60ern ist und hierzulande kaum im TV gezeigt wurde („Je t’aime, je t’aime“ von 1968), den anderen nicht, weil er schlicht und einfach gar nicht bei uns ins Kino kam („Pas sur la bouche“ von 2003) – kaum vorstellbar eigentlich bei einem Regisseur von diesem Rang. Sechzehn Filme, nicht jeder hat mir gleich gut gefallen, um ehrlich zu sein, immer aber ist es von neuem ein Abenteuer, einen Alain-Resnais-Film anzusehen, und in den letzten Jahren auch ein wirkliches Vergnügen. Der hier bildet da keine Ausnahme, und die Tatsache, dass die Kommerzpresse ihn komplett verreißt und das Mainstreampublikum ihn entrüstet links liegen lassen wird, hat natürlich nichts mit seinen Qualitäten zu tun, wahrscheinlich aber muss ich schon dankbar sein, dass ich ihn überhaupt in unserer kleinen Stadt auf großer Leinwand genießen durfte.
Zu Anfang schlendert eine Kamera durch Gräser und über Felder und eine väterliche Stimme sinniert launig über die Hauptfiguren, was sie tun und was sie umtreibt, und so ungefähr pendelt sich der ganze Film dann auch ein. Einer Frau wird unmittelbar nach dem Schuhkauf die Handtasche entrissen, ein Mann findet später die Geldbörse im Parkhaus. So weit, so gut, doch von nun an wird’s etwas holperiger, denn er tut sich schwer, sie einfach zu kontaktieren, sie tut sich schwer, ihm einfach zu danken, irgendwie wollen sie offenbar zusammenkommen, doch so recht will es nie gelingen. Er ist ein brummeliger älterer Herr und Familienvater, sie ist eine burschikose Zahnärztin und Hobbyfliegerin, dazu gibt’s dann noch seine hübsche Gattin und ihre beste Freundin, und irgendwie zockelt das Quartett dann auf ein Finale im Flugzeug hin, das womöglich abrupt mit einem Absturz endet – doch so genau weiß man das nicht, und Resnais hat scheinbar auch kein rechte Lust, uns die letzte Gewissheit darüber zu verschaffen. Lieber foppt er uns noch ein wenig – zuerst mit einem falschen, vorgezogenen Ende (meine beiden Mitgänger sind aber prompt drauf reingefallen und wollten schon ihre Klotten packen) , dann später mit einem höchst irritierenden Ende, das alles im Unklaren lässt und plötzlich ein Mädchen vorstellt, von dem man zuvor noch gar nichts gehört oder gesehen hatte und dessen Frage an die Mutter in absolut keinem Zusammenhang zu der zuvor abgelaufenen Geschichte steht. Der letzte Tritt also vom amüsierten Meister, der sich mal wieder null um eine straff und konsistent entwickelte Story schert, sondern lieber auf allerlei Abwegen den Dingen des Lebens nachspürt, in diesem Fall zumeist der Liebe und ihren Begleitumständen. Dies geschieht zumeist mit schrulligem, liebevollem Humor, einigen hübsch poetischen Trickspielereien, schönen Bildern aus Pariser Vororten und natürlich einer Handvoll grandioser Schauspieler, die hier einmal ihre komödiantischen Neigung voll ausleben können. Wobei eine solch göttliche Komödiantin wie Sabine Azéma natürlich ganz in ihrem Element ist, und auch Dussolier ist ein vertrautes Gesicht in diesem Zusammenhang, während solch großartige Leute wie Consigny, Devos oder Almaric neue, spannende Impulse beisteuern. Resnais zeigt sich nicht an Realismus interessiert, auch nicht an psychologischem, er bevorzugt das Unberechenbare, Groteske, das Überraschende, und er zaubert daraus eine wunderbar verschmitzte Komödie der Irrungen, die ganz leicht und flott daherkommt, nichts und niemanden so richtig ernst nimmt und einen Filmemacher verrät, der sich längst von allen Zwängen und Konventionen gelöst und seinen eigenen Filmkosmos eröffnet hat. Wer grundsätzlich nicht dazu bereit ist, Resnais für neunzig Minuten dorthin zu folgen und vielleicht die üblichen Erwartungen mal hinterwegs zu lassen, der wird mit alledem herzlich wenig anfangen können und ziemlich schnell auf innere Verweigerung schalten. Mir ist all das wurscht, ich habe den Film genossen, habe durchgehend höchst amüsiert zugesehen und habe einmal mehr bewundernd registriert, wie viel Fantasie und Freigeist in diesen alten Herren aus Frankreich steckt, denn im Club der über Achtzigjährigen ist Alain Resnais ja beileibe nicht allein – einer von ihnen ist neulich leider gestorben (mit fast neunzig Jahren), und ich hoffe nun, dass uns seine Kollegen und Landsleute wenigstens noch ein wenig erhalten bleiben! (26.4.)