Almanya – Willkommen in Deutschland von Yasemin Samdereli. BRD, 2010. Vedat Erincin, Fahri Ogün Yardim, Lilay Huser, Aylin Tezel, Demet Gül, Aykut Kayacik, Ercan Karacayli, Denis Moschitto, Petra Schmidt-Schaller, Rafael Koussouris, Aycan Vardar, Kaan Aydogdu

   Das ist nicht nur die Geschichte einer einzigen türkischen Familie, das ist die Geschichte tausender Familien, ob aus der Türkei, aus Griechenland, Spanien, Italien, Portugal, Jugoslawien, woher auch immer – die Geschichte eines Wirtschaftswunders, das dringende Arbeitskräfte brauchte, weil man die eigenen zehn Jahre zuvor im Wahnsinnskrieg verheizt hatte, und das deshalb einen Lockruf vor allem nach Süd- und Südosteuropa aussandte. Diesem Lockruf folgten, wie man weiß, Millionen von Männern, die früher oder später in vielen Fällen ihre Familien nachholten, die sesshaft wurden, sich mehr oder weniger assimilierten, deren Kinder in Deutschland geboren und sozialisiert und mit deutscher Staatsbürgerschaft ausgestattet wurden, und die sämtlich ein Leben zwischen zwei Kulturen lebten, ihrer eigenen, angestammten Kultur und der angenommenen deutschen Kultur. Die Geschichte einer Völkerwanderung, der modernen Industriegesellschaft, eine Geschichte von Immigration mit all ihren unterschiedlichen Konsequenzen. All dies hatte ich im Kopf beim Zuschauen, trotzdem ist dies kein historisches oder soziologisches Dokument und auch keine ermüdende Abhandlung über Einwandererschicksale, sondern ein Film mit dermaßen viel Witz und Gefühl, dass selbst einem ostwestfälischen Hackklotz wie mir das Herz aufgegangen ist.

   Als Papa Hüsein Yilmaz in den 60ern wie viele andere den Weg aus Anatolien ins gelobte Wunderland Almanya antritt, trifft er genau als der einemillionunderste Gastarbeiter ein, verpasst also knapp den Presserummel und kommt nicht auf jenes legendäre Foto, das den unbeholfen lächelnden portugiesischen Herrn zeigt, der partout nicht weiß, was er mit diesem komischen Motorroller anfangen soll und was das ganze überhaupt zu bedeuten hat. Aber sonst rollt der Rubel, Mama Fatma zählt daheim die Scheinchen und zieht drei Kinder groß, und eines Tages ist es dann soweit und die ganze Familie macht sich auf, für immer nach Almanya zu ziehen, wo es kalt und dreckig ist, wo die Männer keine Schnauzbärte tragen, wo es Weihnachten und Riesenratten an Leinen gibt, wo die Leute eine Holzfigur anbeten, nur Kartoffeln, Schweinefleisch und jeden Sonntag sogar Menschen essen und ihr Blut trinken, und wo es schmutzige Klos mit komischen Stühlen drüber gibt. Vierzig Jahre später ist die Familie voll assimiliert, ihre Kinder und Enkel leben wie alle anderen, haben Scheidungen, Arbeitslosigkeit oder ungewollte Schwangerschaften auf dem Buckel, sprechen akzentfrei deutsch, außer Hüsein und Fatma, die nun die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen und auch zugesprochen kommen. Hüsein soll auf einem Empfang auf Schloss Bellevue zu Ehren der Gastarbeiter eine Ansprache halten, doch erst mal rafft er die Seinen zusammen und karrt sie erstmals seit Ewigkeiten in die alte Heimat, wo er ein Haus gekauft hat, das er als Feriensitz zu nutzen gedenkt. Die Reise wird angemessen turbulent und verläuft natürlich anders als geplant, und so kommt es, dass Hüseins Enkel Cenk seine Rede an die Bundeskanzlerin richten wird.

   Zwischendurch bekommt Cenk die Geschichte seiner Familie von der heimlich schwangeren Kusine erzählt, und wir erfahren so, wie der schneidige Hüsein einst die schüchterne Fatma freite, eine Familie mit ihr gründete und den Weg nach Westen wagte mit allem, was darauf folgte. Wir nehmen Anteil an der Ankunft der staunenden Anatolier in Deutschland, wo alles ganz anders und irgendwie enttäuschend ist, wo die Leute ein komisches und unverständliches Kauderwelsch sprechen, das erst entziffert werden kann, als die Kinder die Sprache schnell lernen. Die Kinder wiederum finden sich in gemischten Schulklassen wieder, tragen daheim ihre Kämpfchen von früher aus, die sie sogar als erwachsene Männer noch fortführen, und sind irgendwann zu einer ganz normalen deutsch-türkischen Familie geworden wie Millionen andere auch. Buch und Regie widmen sich ihnen mit soviel Liebe, Zärtlichkeit und originellem Witz, das man einerseits das einzelne Schicksal wohl im Blick hat, andererseits aber auch versteht, das dies nur ein Teil eines großen kollektiven Erlebens ist. Hüsein versucht mit seiner Ferienreise nach Hause nichts anderes – er erinnert seine Kinder und Enkel daran, nicht zu vergessen, woher sie kommen, was sie geprägt hat, und wo bei allen Veränderungen und Anpassungen ihre Wurzeln sind. Urkomische und sehr eindringliche, gefühlvolle Momente wechseln einander häufig ab, es geht mit viel Temperament und liebenswerter Selbstironie zur Sache, und für mich als Deutschen war es besonders schön mal zu hören, welche Vorurteile uns denn von anderen Nationen entgegengebracht werden und wie wenig sie sich von jenen unterscheiden, die uns selbst prägen. Ganz nebenbei geht um solche Themen wie Identität, Kultur, Klischees und Tradition, und vor allem ist der Film eine wunderschön warme Hommage an die Familie und alles, was dazugehört, und das ist nicht immer nur eitel Sonnenschein.

 

   In leuchtende Bilder schön gekleidet, von einem famosen Ensemble grandios gespielt, extrem launig und originell in Szene gesetzt ist dies ein rundum wunderschöner Film, der blendend unterhält und auch noch eine tiefere Ebene zu bieten hat. Im Abspann das Zitat von Max Frisch, das die Regisseurin sich programmatisch einverleibt und dem sie auf ihre Weise Ausdruck verliehen hat: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen Menschen.“ (11.3.)