Another Year (#) von Mike Leigh. England, 2010. Jim Broadbent, Ruth Sheen, Lesley Manville, Oliver Maltman, Peter Wight, David Bradley, Karina Fernandez, Martin Savage, Philip Davis, Imelda Staunton, Michele Austin
Der Filmtitel sagt’s schon: Dies ist nur ein weiteres Jahr, nicht viel anders als das vorige, und wenn es vorüber ist, kann man davon ausgehen, dass die Dinge im wesentlichen so weiter gehen werden, natürlich mit dem einen oder anderen bedeutenderen Ereignis, doch an der Grundsubtanz wird auch dies nicht rütteln können. Diese Grundsubstanz hat zu tun mit Tom und Gerry, einem Ehepaar im gesetzten Alter, sie Therapeutin, er Geologe, beides wie man so schön hässlich sagt „reife Menschen“, die einander in liebevollem und sehr tiefem Verständnis verbunden sind. Der ruhende Pol in dieser Geschichte, in der alle übrigen Personen und Ereignisse mehr oder weniger um sie kreisen, betrachtet und begleitet vom Wandel der Jahreszeiten, der vor allem sichtbar wird, wenn Tom und Gerry ihren kleinen Garten irgendwo am Rande Londons bearbeiten.
Denn während Tom und Gerry in sich ruhend ihren beruflichen und privaten Geschäften nachgehen, zeigt sich die Welt in ihrer unmittelbaren Umgebung hart am Rande der Auflösung. Sohn Joe scheint noch nicht die richtige Frau gefunden zu haben, was vor allem die Frau Mama beunruhigt. Ken, ein guter Freund aus alten Tagen, kommt die beiden besuchen und erscheint als einsamer, frustrierter, übergewichtiger und dem Alkohol stark zugeneigter Knabe, den Tom vergeblich aufzubauen versucht. Als Toms Schwägerin stirbt und die Familie den Witwer besucht, stößt sie auf einen ebenfalls einsamen, frustrierten, total in sich verschlossenen Kerl, den sie erst mal zu sich nach Hause holen, um ein wenig auf ihn aufzupassen. Im Mittelpunkt aber steht Mary, Gerrys Arbeitskollegin und Freundin, noch eine einsame, geschiedene, vom Pech verfolgte, frustrierte, dem Alkohol stark zugeneigte Person, liebenswürdig zwar, aber auch nervig und sehr zeitintensiv in der Betreuung. Schlimmer wird’s noch, als sie sich versuchsweise an Joe ranschmeißt, und der zu höflich ist, um ihr klare Grenzen zu setzen, woraus sie wiederum schließt, dass er vielleicht nicht abgeneigt wäre. Als er eines Tages zu aller Überraschung doch mit einer Freundin auftaucht, der netten Katie, ist Marys Reaktion vorprogrammiert und jede Menge Spannung auch. Zwar schaffen es Tom und Gerry irgendwie und mit fast übermenschlicher Geduld, auch diese Situation halbwegs zu entschärfen, doch gilt der letzte lange Blick von Dick Popes Kamera Mary, einer noch immer einsamen, verunsicherten, hochgradig fragilen und liebebedürftigen Frau, die genau das nicht bekommt, was sie am meisten brauchte.
In diesem letzten Blick liegt die vielleicht nachhaltigste und stärkste Geste dieses Films, der an sich schon eine einzige großartige Geste der Menschlichkeit ist, anders kann ich das nicht ausdrücken. Ein ganz typischer Mike Leigh-Film ist das, fest verwurzelt im Alltagsgeschehen, konzentriert auf eine überschaubare Gruppe alltäglicher Menschen, die alltägliche Dinge tun und in alltäglichen Umständen leben. Mit nur ganz leichten Überspitzungen und gelegentlichen ironischen Einsprengseln wird nicht mehr und nicht weniger gezeigt als das Ringen einiger Leute um Wärme, Sicherheit, Geborgenheit, Liebe und Zugehörigkeit. Darin sind sich alle einig, diese Situation, diese Sehnsüchte und Bedürfnisse teilen sie alle. Der große Unterschied liegt zum einen darin, wie weit sie damit gekommen sind, der andere, sicherlich noch bedeutendere Unterschied liegt bei Leigh darin, auf welche Weise sie ihre Bedürfnisse äußern. Mary tut dies ganz direkt, offenbart ihre Verletzlichkeit und ihren Frust bis an die Schmerzgrenze ehrlich und unverblümt, strapaziert zwar die Nerven ihrer Mitmenschen gehörig, erleichtert andererseits aber auch den Umgang damit, weil man sofort und genau weiß, was ansteht und woran man ist. Ken pendelt sich so auf der Mitte ein, bemüht sich anfangs, die Fassade des guten alten Kumpels aufrecht zu erhalten, bricht dann aber Stück für Stück in sich zusammen, bis es nicht mehr geht. Toms Bruder Ronnie befindet sich am äußerst entgegengesetzten Ende der Skala, fast wortloser, ausdrucksloser, vollkommen in sich verschlossener Typ, der von sich so gut wie nichts preisgeben kann oder will, all seine Gefühle und all seinen Schmerz tief vergraben hat und in seiner Einsamkeit viel erschütternder wirkt als Mary, die offensiv überall andocken will. Wie man einen Film mit solchem Personal machen und das Publikum nicht selbst völlig frustrieren und verstören will, das ist Leighs Kunst seit eh und je und er beherrscht sie noch immer in Vollendung. Auch wenn er zornige Männer zeigt wie Ronnies Sohn Carl (einen typischen zornigen Menschen bei Mike Leigh) oder wenn uns Mary am Ende doch gehörig auf den Senkel geht, immer wieder kriegt er die Kurve, gibt er uns Raum und Zeit, unsere spontanen Reaktionen zu überdenken, unseren Blick zu revidieren, uns daran zu erinnern, dass auch wir uns manchmal mies fühlen und jemanden zum Reden und Behüten brauchen. Leigh macht aus diesen Leuten keine Loser, keine lächerlichen Figuren und auch keine unsympathischen Figuren, seine Solidarität, sein Interesse und auch seine Empathie gehört all seinen Personen in diesem Film, und selbst bei einem wie Carl, den man auf den ersten Blick schlicht als Arsch bezeichnen würde, ahnt man doch, dass hinter seiner aggressiven, abwehrenden Haltung etwas ganz anderes stecken mag. Das hat bei alledem nichts zu tun mit einem sentimentalen Kuschelhumanismus, Leigh ist niemals sentimental, auch wenn seine Film in den letzten Jahren viel weniger schroff und kantig sind als etwa „Naked“ oder „High Hopes“ oder anderen früheren Werken. Nicht verändert hat sich sein Blick für Menschen und Milieu, seine Mischung aus Geduld, Humor und bissiger Gesellschaftsanalyse, und seine Weigerung, in irgendeiner Weise gefällig oder kommerziell zu werden. Ebenfalls erhalten geblieben ist seine unübertroffene Zusammenarbeit mit den Schauspielern, die auch hier wieder ein großartiges Team bilden und die ihre Szenen ebenso dicht wie eindringlich und lebensnahe gestalten. Leigh setzt nicht auf konventionelle Dramaturgie, er braucht Zeit und er nimmt sie sich – wieder mehr als zwei Stunden – und auch der Zuschauer braucht also Zeit und Geduld, denn manche Szenen tun etwas weh in ihrer unbequemen Direktheit und Länge, zumal wir sowas kaum noch gewöhnt sind, denn so gut wie jeder andere Film hätte längst weiter geschnitten und uns das Gröbste erspart. Diese missverstandene Rücksicht kennt Leigh von jeher nicht, gottseidank kann ich nur sagen, denn so sind seine Filme wie auch die seines großen Mitstreiters im Geiste, Ken Loach, einzigartig, unverkennbar und vor allem unendlich kostbar, und das meine ich ganz wörtlich. Wie ich lese, erscheint Loachs neuer Film im März in England, hoffentlich bald auch hier, denn da habe ich wieder was, worauf ich mich freuen kann. (22.1.)