Pieds nus sur les limaces (Barfuß auf Nacktschnecken) von Fabienne Berthaud. Frankreich, 2010. Ludivine Sagnier, Diane Kruger, Denis Ménochet, Brigitte Catillon, Jacques Spiesser, Jean-Pierre Martins

   Die immer wieder gern genommene Mär vom vermeintlich Kranken, der den vermeintlich Gesunden auf den richtigen Weg zurück führt wird hier durchexerziert anhand zweier Schwestern, die durch den Unfalltod ihrer Mutter zu Vollwaisen werden, da Papa sich einst unter ungeklärten Umständen erhängte. Es sind zwei sehr verschiedene Schwestern – die eine, Clara, arbeitet in der Stadt als Anwaltsgehilfin, ist verheiratet und hat gelernt, die Rolle der braven, disziplinierten Tochter zu spielen. Den Grund dafür sieht sie in ihrer Schwester Lily, die mental irgendwo in der Kindheit stehen blieb und sich abwechselnd mit morbid-poetischen Kinderspielchen und sehr handfesten Erwachsenenspielchen beschäftigt und damit ihre Umgebung rechtschaffen auf Trab hält – die Schwester, den Schwager, die Nachbarsfrau und die Jungs aus dem nahegelegenen Dorf. Sie lebt in ihrer eigenen Welt irgendwo zwischen Diesseits und Jenseits und wenn sie ihren Willen nicht kriegt, dann wird sie – ganz das kleine Mädchen – zickig und bisweilen gefährlich. Clara versucht erst, sich aus der Ferne um sie kümmern, das klappt aber nicht, dann zieht sie schließlich vorübergehend ein, aber dadurch wird’s auch nicht leichter. Ihre Nerven werden einem Dauertest unterzogen und obendrein setzt sie Ehe und Beruf aufs Spiel. Am Ende aber verhilft Lily ihr auf verschiedene Weise zu der Einsicht, dass man auf Ehe und Beruf auch bestens verzichten kann. Die beiden basteln sich ein Auto zusammen, ziehen übers Land, verkaufen selbstgemachte Marmelade und allerlei Krimskrams aus Lilys unerschöpflichem Fundus und leben ganz bewusst nur so in den Tag hinein.

   Das alles ist sehr sympathisch, sehr verschroben und versponnen – und manchmal auch ein bisschen langweilig, um ehrlich zu sein. Es gibt sehr schöne und poesievolle Bilder aus dem sonnigen Süden zu bewundern, Diane Kruger (die kann ja tatsächlich schauspielern!) und Ludivine Sagnier bilden ein eindrucksvolles Schwesternpaar, das leider von der Dramaturgie hier und da im Stich gelassen wird. Fabienne Berthaud baut durchaus spannungsreiche Momente auf, lässt diese aber mit schöner Regelmäßigkeit flach verlaufen, was gar nicht sein muss, denn man kann auch Spannung erzeugen, ohne auf blöde Mainstreameffekte zurückzugreifen. Außerdem versagt uns Berthaud konsequent jeden Einblick in die besondere Familiendynamik, die die Schwestern geprägt haben muss. Wir bekommen ein paar Andeutungen hingeworfen, den einen oder anderen bitteren Satz von Clara, doch bleibt all dies vage, und ich zumindest hätte gern noch etwas mehr über die Personen erfahren, denn im Grundsatz sind sie ja schon interessant. Eine einzige Szene fällt dann doch aus dem Rahmen, und die zeigt auch gleich, was möglich gewesen wäre, jene schockierende, überraschende Vision, in der Clara ihre Schwester in der Badewanne ertränkt. Sie, die sonst so fürchterlich beherrscht und kontrolliert zu sein scheint, offenbar hier für einen winzigen Moment die abgründige Seite ihres Wesens, und die ganze Geschichte hätte hierdurch einen ordentlichen Schub kriegen können. Kriegt sie aber leider doch nicht, weil Berthaud sich danach sofort wieder zurückzieht und die Handlung weiter plätschern lässt, statt diesem Motiv der Aggressionen nachzuspüren. Der Ausklang dann, an dem die bieder Clara ihrer biederen Existenz den Laufpass gibt und einfach loszieht ins Ungewisse, ist je nach Veranlagung mutmachend oder schlicht naiv – ich schwanke da immer zwischen den beiden Polen.

 

   Der Film ist insgesamt schön anzuschauen (hätte auch sehr gut auf die eingespielten Popsongs verzichten können), aber auch nicht viel mehr, weil die an sich beachtliche Substanz der Geschichte nicht vernünftig entwickelt wird, alles zu sehr in der Schwebe bleibt. Da wäre sehr viel mehr möglich gewesen. (17.5.)