Das Lied in mir von Florian Cossen. BRD, 2010. Jessica Schwarz, Michael Gwisdek, Rafael Ferro, Beatriz Spelzini, Alfredo Castellani
Das spezielle deutsch-argentinische Verhältnis erhält in dieser Geschichte einen weiteren, quasi aktualisierten Anstrich: Marisa will eigentlich zum Schwimmwettbewerb nach Chile fliegen, bleibt aber beim Stop-over in Buenos Aires an einem spanischen Kinderlied hängen, das sie buchstäblich lähmt und auf eine zunächst unerklärliche Weise berührt. Sie erzählt dies ihrem Vater andeutungsweise auf die Mail-Box, Paps trifft ebenso überstürzt wie überraschend in Buenos Aires ein und eröffnet der völlig konsternierten Maria, sie sei gar nicht seine Tochter, sondern die Tochter eines Ehepaares, das vor dreißig Jahren von der Junta verschleppt und vermutlich ermordet wurde. Zu diesem Zeitpunkt mögen höchstens zehn Minuten vergangen sein, und was in jedem anderen Film als großer Knalleffekt am Schluss präsentiert werden würde, bildet hier lediglich den Auftakt für die nun folgende Aufarbeitung einer Familiengeschichte, die noch so manche schmerzhafte Enthüllung parat hält.
Und was sich hier auf dem Papier vielleicht wie eine dösige Sat-1-Seifenoper ausnimmt, ist auf der Leinwand ein faszinierender, wirklich packender und dramatischer Film, der es nicht nötig hat, das Drama künstlich aufzumotzen, sondern der sich mit vollem Recht ganz auf die Substanz der Geschichte und auf seine künstlerischen Qualitäten verlässt. Und die sind beachtlich. Eine rohe, körnige Kamera durchstreift die weiten, dicht belebten Straßen der fremden, aber nicht feindlichen Riesenstadt bei Tageshitze und auch bei Nacht, ab und zu gönnt uns ein Hubschrauber den Luxus einer radikalen Draufsicht, schwebt mit uns senkrecht über Dächern und Straßenzügen, meistens aber sind wir nahe bei Marie im Hotel, begleiten sie auf dem Weg in Bars oder einfach so drauflos, um das zu verarbeiten, was ihr bisheriger Vater Anton ihr offenbart hat. Sie lernt den Polizisten Alejandro mit leidlichen Deutschkenntnissen kennen, lässt sich mit ihm ein, und macht sich sofort auf die Suche nach Überbleibseln ihrer Familie. Rasch wird sie fündig, treibt ihre Tante Estela auf, die Schwester ihrer Mutter, und bewegt sich immer näher an den Kern einer Geschichte, die Anton nicht preisgeben mag und die zuletzt vermutlich für immer zwischen ihnen stehen wird.
Eindrucksvoll hält Florian Cossen in seinem Debüt die Spannung hoch, verdichtet sie ständig, ob nun bei Marias Suche nach ihren Wurzeln oder bei dem sich stetig zuspitzenden Konflikt zwischen Vater und Tochter, die eben das bald nicht mehr sind. Und obwohl von Politik nur selten explizit die Rede ist, so schwingt sie beständig mit, nicht nur in Marias Fragen nach dem Grund für den Tod ihrer Eltern, sondern auch in Antons Rolle als Deutscher in einer deutschen Fabrik im Argentinien der Militärdiktatur, oder in Alejandros häufig ausweichendem Verhalten, gerade wenn es um seinen eigenen Vater und dessen politische Vergangenheit geht. Anders als Maria ist er nicht an der letzten, womöglich schmerzhaften Wahrheit interessiert, er lebt in einem Land mit einer ganz anderen Tradition, er hat gelernt, dass die Suche nach der Wahrheit selten gut ausgeht. Maria wiederum, die anders als ihre ursprüngliche Familie behütet und ahnungslos in Deutschland aufgewachsen ist, kann sich zum Schluss sogar die Geste leisten, ihren vermeintlichen Vater in Schutz zu nehmen vor Estelas Versuch, ihn in Argentinien vor ein Gericht zu bringen, weil er einst ein Kind illegal und mit einem gefälschten Geburtsdatum aus Argentinien nach Deutschland brachte, angeblich, um es in Sicherheit zu bringen, sehr wahrscheinlich aber eher aus eigennützigen Motiven, denn offenbar hatten Anton und seine früh verstorbene Frau kein eigenen Kinder bekommen und wollten Maria nicht wieder hergeben, wollten auch später keinen Kontakt zu Estela aufnehmen, um ihr mitzuteilen, was aus der Nichte geworden war.
Es ist viel drin in diesem Film, vieles, das nicht ausgesprochen wird und auch nicht werden muss, weil die Bilder so stark sind, weil Drehbuch und Regie so stark sind und weil auch die Schauspieler so stark sind, unter ihnen vor allem Jessica Schwarz, die brillant wie nie spielt, die hier vielleicht ihre bisher eindrucksvollste Rolle hat und ihr voll und ganz gerecht wird. Ihre Szenen mit Michael Gwisdek als Anton sind vor allem deshalb so fesselnd, weil die beiden fast ganz auf laute Töne verzichten können, die Spannung viel mehr aus intuitivem, von Blicken getragenem Zusammenspiel aufbauen. Das ist hohe Schauspielkunst in einem insgesamt äußerst sehenswerten Film, der ganz im Gegensatz zu dem Werk vom Vortag mit Sicherheit noch lange nachklingen wird. (16.2.)