Incendies (Die Frau, die singt) von Denis Villeneuve. Kanada, 2010. Lubna Azabal, Mélissa Désormeaux-Poulin, Maxime Gaudette, Rémy Girard, Abdelghafour Elaaziz
Hätte dieser Film auch sonst nichts bewirkt, dieses aber auf jeden Fall: Mein ewiger Mitstreiter und ich legten den gewohnten Weg zum Parkplatz in ganz ungewohnt eifriger und durchaus kontroverser Debatte zurück, bis zuletzt uneinig darüber, ob dies nichts weiter ist als total konstruierter, von vorn bis hinten unglaubwürdiger und zudem auch noch überlanger Murks, oder vielleicht doch ein durch und durch bewegender, großartiger Film, der noch lang im Kinogedächtnis verbleiben wird. Am Ende trennten wir uns mit der Einsicht, an diesem Abend wohl nicht mehr zusammen zu kommen, was die Einschätzung des eben gesehenes Films betrifft – er hing nach wie vor erstgenannter Meinung an, ich der anderen. Ich habe den Film erlebt als ein von Anfang bis Ende enorm intensives, eindringliches, faszinierendes und zugleich verstörendes Drama über eine Spurensuche in der eigenen Familie, eine wahrhaftige Reise in die Finsternis, nämlich über einige Jahrzehnte zurück in den aufflammenden Bürgerkrieg zwischen Christen und Muslimen irgendwo in Nahost, der erlebt wird von einer Frau auf der Suche nach ihrem Sohn, die, man kann es wirklich nicht anders beschreiben, buchstäblich in die Hölle führt. Sie überlebt diese Hölle, geht mit ihren Kindern nach Kanada, überwindet die Folgen ihres Traumas letztlich aber nicht und hinterlässt ihren Zwillingen nach ihrem Tod ein rätselhaftes Testament, in dem sie die beiden auffordert, ihren Vater und ihren Bruder zu finden und ihnen jeweils einen Umschlag zu überreichen. Während Simon sich zunächst weigert, reist Jeanne sofort in die Heimat ihrer Mutter und macht sich auf die Suche. Während sie sich allmählich an eine unfassbare Wahrheit herantastet, begleiten wir in langen Rückblenden Nawal, die Frau die singt, auf ihrem Weg durch ein von Krieg, Gewalt und Folter verwüstetes Land, in dem sie selbst sich kaum noch zurechtfindet und zuletzt nur noch versuchen kann, irgendwie zu überleben. Am Schluss müssen die Zwillinge erkennen, dass sie ein und denselben Mann suchen, und nachdem sie ihre Mission erfüllt haben, bekommen sie den letzten Brief ihrer Mutter ausgehändigt.
Und erst jetzt wird die ganze Dimension dieses Dramas deutlich, denn Nawal hat durchaus gewusst, dass der Vater ihrer Zwillinge, ihr Peiniger und Vergewaltiger im Gefängnis, gleichzeitig ihr eigener Sohn war, der selbst in den Wirren des Krieges untergegangen ist, sich erst als Scharfschütze für die eine Seite, dann als Folterknecht für die andere durchschlug, bis auch er den Absprung nach Kanada schaffte. Sie lebt zerrissen zwischen der Liebe für den Sohn und der Panik und dem Entsetzen vor der Brutalität und Grausamkeit des Knastaufsehers, und diese Zerrissenheit hält sie auf Dauer nicht aus, sie stirbt buchstäblich daran.
Natürlich sind hier jede Menge Konstruktion und Zufall am Werk, natürlich sollte man die Synopsis des Films nicht gerade in nüchternem Zustand lesen, weil man sich sonst in irgendeinem grässlich überzogenen Groschenroman wähnt. Was Villeneuve jedoch daraus gemacht hat, ist etwas Außerordentliches, ist ein in gewisser Hinsicht zeitloses Drama, das einen weiten Bogen spannt von ganz archaischen Motiven wie Familienehre, Schande, Verstoßensein über die leider immer noch gültigen Konflikte zwischen den verfeindeten religiösen Gruppierungen in Nahost bis hin zum privaten, intimen Rahmen einer Familiengeschichte. Diese Familie trägt die Bürde, beispielgebend für ein riesengroßes und extrem schicksalsträchtiges Thema sein zu müssen, doch es funktioniert. Villeneuve scheut nicht die große Geste, die großen Gefühle, doch er hält stets das richtige Maß, vermeidet jegliche Überwältigungs- oder Manipulationsstrategie, und obgleich der Film in etlichen Szenen ganz schön happig ist, kann hier niemals von Effekthascherei die Rede sein. Die Grausamkeit eines Bürgerkriegs, der gänzliche Verlust aller menschlicher Werte, der Sog von Fanatismus, Hass und religiöser Raserei, all dies wird mit maximaler Eindringlichkeit vorgeführt in Szenen, die den Zuschauer durchaus an die Grenzen bringen. Kontrastiert wird dies durch sehr ruhige, intime, zärtliche Momente, die die Beziehung der Zwillinge ebenso feinfühlig beleuchten wie die Versuche Nawals, sich nicht völlig aufgeben zu müssen.
Auch künstlerisch ist der Film extrem eindrucksvoll – brillante, starke Bilder, ein tolles Drehbuch und grandiose Darsteller, die ihren Figuren und Schicksalen ein Gesicht und ein Profil geben. (Nur auf Thom Yorkes grässlich psychotisches Gequengel hätte der Soundtrack meinetwegen gern verzichten können...) Alles in allem ein ganz großer, äußerst eindrucksvoller Film, an den ich mich gern und lange erinnern werde. Endlich auch mal wieder ein Lebenszeichen der Kanadier, die sich in den vergangenen Jahren doch ziemlich rar gemacht haben hierzulande... (5.7.)