Die verlorene Zeit von Anna Justice. BRD, 2011. Alice Dwyer, Dagmar Manzel, Mateusz Damiecki, Lech Mackiewicz, Joanna Kulig, Adrian Topol, Susanne Lothar, David Rasche, Shantal van Santen, Florian Lukas
Eine Liebesgeschichte unter tragisch fatalen Vorzeichen: Das jüdische Mädchen Hannah aus Berlin und Tomasz, der polnische Partisan, treffen im KZ aufeinander, verlieben sich und schaffen es, tollkühn zu fliehen. Was den Nazis nicht gelang, schafft aber Tomaszs eifersüchtige, antisemitische Mutter- sie liefert die schwangere Hannah um ein Haar einem Nazioffizier aus und macht die Trennung der beiden perfekt, in dem sie ihrem Sohn vorlügt, Hannah sei bei dem Überfall der russischen „Befreier“ ums Leben gekommen. Erst mehrere Jahrzehnte später – beide leben verheiratet und mit eigenen Familien in Polen bzw. New York – treffen sie wieder aufeinander. Hannah sieht Tomasz durch Zufall in einem TV-Interview, und alles bricht plötzlich wieder auf. Sie weiß, sie muss ihn wieder sehen, um endlich mit dem Erlebten abschließen zu können. Also reist sie nach Polen, wo er an der Bushaltestelle auf sie wartet.
Mit diesem Bild endet dieser schöne Film, und dieser Schluss markiert in seiner dezenten, unaufdringlichen Haltung schon seine größte Stärke, dass es ihm nämlich wundersamerweise fast durchgehend glückt, sämtliche Kitschklippen sicher zu umschiffen, und das ist weder selbstverständlich noch üblich. Sowohl die Szenen aus der Kriegszeit als auch die Szenen aus dem späteren Leben Hannahs in ihrer neuen US-amerikanischen Heimat sind für sich genommen sehr einfühlsam und intensiv, im Zusammenspiel aber gewinnen sie erst ihre volle Kraft, wenn man nämlich zusammenfügt, unter welch dramatischen und furchtbaren Umständen die beiden sich kennen lernten, unter welchen Gefahren sie fliehen und bei Familie und Freunden unterschlüpften konnten, wie sie schließlich scheinbar endgültig getrennt wurden, und wie das Erlebte auch dreißig Jahre und später noch immer präsent ist, und zwar so sehr, dass die Erinnerungen Hannah buchstäblich lähmen. Sie ist nicht mehr in der Lage, die alltägliche Routine zu bewältigen, sie zieht sich während einer Feier für ihren Ehemann zurück, sie muss mit sich und ihren Gedanken allein sein, sie kann sich niemandem mitteilen, und wie die Reaktionen von Mann und Tochter verraten, hat sie das bislang auch noch nie getan. Dies ist die zweite, ebenfalls sehr eindrucksvoll gestaltete Ebene des Films, neben der reinen Erlebnisebene, die für sich genommen schon stark genug ist. Selbst viele tausend Meilen und viele Jahre von alldem entfernt, wohlbehütet von wirtschaftlichem Wohlstand und einem offenbar rücksichts- und liebevollen Ehemann, hat Hannah ihre Vergangenheit niemals abschütteln, hat niemals neu zu leben beginnen können. Erst als sie Tomasz im TV sieht, scheint sie wieder zu sich selbst zu finden, vor allem durch den Entschluss, ihn treffen zu müssen. Das Trauma von Terror, Verfolgung, Krieg und Gewalt ist die eine Sache, das Trauma der Trennung eine andere, die offenbar noch schwerer wiegt. Sie weiß auch, dass sie mit ihrem Entschluss ihre gegenwärtige Familie akut gefährdet, dass sie ihr wohl auch unrecht tut, dass darin aber auch die einzige Chance liegt, jemals richtig mit dem einen abzuschließen und sich auf das andere einlassen zu können, wenn sie es denn will. Unlösbar ist dabei der Konflikt mit ihrer aktuellen Familie, die natürlich Angst haben muss, sie wieder an die Vergangenheit zu verlieren, denn einerseits ist diese Zeit für Hannah unwiederbringlich verloren, andererseits aber wird sie versuchen, die Brücke zwischen ihren beiden Leben zu schlagen, mit der Möglichkeit, dass sie sich gegen ihr zweites, ihr gegenwärtiges Leben entscheiden wird.
So ist dies mehr als „nur“ ein weiteres Kriegsdrama, von dem ja so mancher mittlerweile nichts mehr wissen mag, dies ist auch ein Film über Erinnerung und Vergessen, über die Möglichkeit, ein völlig neues, anderes Leben zu beginnen und das Drama, wenn sich auf einmal das alte, erste Leben wieder meldet. Ein sehr gefühlvoll und stark inszenierter und eindrucksvoll gespielter Film – vor allem Alice Dwyer und Dagmar Manzel sind großartig als Hannah -, der Anteilnahme nicht erzwingen muss durch eine übermäßig gefühlige Darstellung, der vielmehr von selbst wirkt durch die Kraft seiner Geschichte und die Prägnanz der beteiligten Personen. (28.11.)