En familie (Eine Familie) von Pernille Fischer Christensen. Dänemark, 2010. Lene Maria Christensen, Jesper Christensen, Pilou Asbæk, Anne Louise Hassing, Coco Hjardemaal, Gustav Fischer Kjærulff, Line Kruse
Ist mir fast schleierhaft, wie die das immer wieder schaffen, aber egal eigentlich, sie schaffen es eben, die ollen Dänen, besser als alle anderen, und glücklicherweise geben sie uns alle Jahre wieder die Gelegenheit, uns davon zu überzeugen. Es gibt nicht sehr viele dänische oder überhaupt skandinavische Filme bei uns zu sehen, die wenigen jedoch sind kostbar und bleiben in Erinnerung als wirklich selten gelungene Beispiele für menschliche Dramen.
Es geht dabei nur um die ganz essentiellen Dinge – das Leben, die Liebe, der Tod, und all dies wird mit maximaler Konsequenz und maximaler Intensität verhandelt, nie aber so, dass wir Zuschauer unter dem Gewicht all der fürchterlichen Probleme und Konflikte erschlagen würden. Wir sind bedrückt, betroffen, bewegt, bestürzt manchmal und oft auch im besten Sinne des Wortes berührt, aber wir sind nie so hässlich satt und leer und betäubt wie nach einem der geläufigen Hollywoodschinken, die uns mit künstlich aufgeschäumten „Gefühlen“ erdrücken und uns absolut keinen Raum lassen für eigene Empfindungen und einen eigenen Blick.
Die dänischen Dramen – ausgehend von den genialen Dogmafilmen, die den Stein Ende der 90er ins Rollen brachten – sind so nicht, sie sind einerseits unendlich schwer und andererseits ebenso klar und irgendwie echt und nahe am Leben. Es gibt –zig Beispiele dafür, die hier aufzuführen zu weit gehen würde, es reicht vielleicht festzustellen, dass sich „Eine Familie“ nahtlos einreiht in eine eindrucksvolle Serie großartiger Meisterwerke, die sich durch eine Handvoll gemeinsamer Eigenschaften und Stärken auszeichnen: Grandiose Darsteller zuerst, eine ebenso sensible wie kompromisslose Regie, eine Kamera, die ganz dicht dran ist an den Personen und ein Drehbuch, das auf beste Weise an die skandinavische Tradition der seelischen Tiefenbohrung im Geiste des Übervaters Ingmar Bergman anschließt.
Diese Familie, denn es geht in diesen Filmen vorwiegend um Familien in welcher Form auch immer, heißt Rheinwald und ist in dritter Generation in Kopenhagen als Bäcker ansässig, hat es dank der Anstrengungen der Vorväter zum Hoflieferanten gebracht – ein echtes Lebenswerk also, das unbedingt fortgeführt werden muss. Und das ist das Problem des aktuellen Patriarchen, der heißt Rikard, ist in zweiter Ehe verheiratet, hat aus erster Ehe zwei erwachsene Töchter, von denen er die eine nicht führ fähig hält, den Betrieb zu übernehmen, während die andere, Ditte, eigentlich auserwählt ist, doch sie hat andere Ambitionen, erhält nämlich ein Angebot, zusammen mit ihrem Freund nach New York zu wechseln und dort als Kunstagentin tätig zu werden. Ein Traum, dem die beiden sogar ein ungeborenes Kind opfern und der Ditte bald in schwere Konflikte stürzt, denn ganz plötzlich meldet sich Rikards besiegt geglaubte Krebserkrankung wieder, sein Zustand verschlechtert sich dramatisch, ein Tumor im Gehirn sorgt für unberechenbare Wesensveränderungen, und aus dem flamboyanten Bäckermeister wird ein todgeweihter Tyrann, der die Nerven der gesamten Familie aufs äußerste spannt. Ditte will sich von ihm nicht vor den Karren spannen lassen, bringt es aber auch nicht über sich, den schwer kranken Vater zurück zu lassen und über den Teich zu ziehen, und weil es auch noch Spannungen mit Rikards jüngerer zweiter Frau gibt, bilden sich vielschichtige Fronten, zwischen denen sich alle Beteiligten aufreiben.
Wie gesagt, dies ist alles andere als leichter Stoff, und die schiere Fülle der Themen und Dramen würde so gut wie jeden anderen Film unter sich begraben, doch wie ihren Kolleginnen und Kollegen gelingt es auch Pernille Fischer Christensen, aus den vielen schicksalsträchtigen Familienbanden ein enorm intensives, eindringliches und gefühlvolles Stück Kino zu destillieren, das sein gesamtes dramatisches Potential nicht einmal voll auszureizen braucht, das es auch nie nötig hat, auf laute Effekte zurückzugreifen. Eine der Stärken dieses Films wie auch vieler seiner Vorgänger ist die große Offenheit und Toleranz den Hauptfiguren gegenüber. Niemand wird jemandem vorgezogen, niemand wird denunziert, niemand auf Kosten anderer herausgestellt oder gerechtfertigt. Alle haben ihre Beweggründe, ihre Gefühle, ihren Stolz und ihre Verletzlichkeiten, und es ist nicht Angelegenheit der Regisseurin, hier irgendjemanden ins Unrecht zu setzen. Eine sehr humanistische Haltung, und wenn der Begriff auch abgenutzt oder altertümlich klingen mag, so würde ich ihn im Zusammenhang mit Filmen wie diesem durchaus benutzen, weil mir einfach kein besserer einfällt. Großartiges Kino ist das sowieso – herausragend gespielt, sensibel und intim realisiert, all dies im Sinne der vielen großartigen Filme aus dem Norden, die es schon gab und die es hoffentlich noch reichlich geben wird. (8.3.)