Halt auf freier Strecke von Andreas Dresen. BRD, 2011. Milan Peschel, Steffi Kühnert, Talisa Lilly Lemke, Mika Nilson Seidel, Ursula Werner, Marie Rosa Tietjen, Otto Mellies, Christine Schorn, Inka Friedrich, Thorsten Merten, Bernhard Schütz

   Man muss kein Familienvater sein, um von diesem Film erschüttert zu werden, wenn man aber einer ist, dann geht’s erst recht an die Substanz, denke ich mal. Ich muss mich schon auf so was einlassen wollen und ungefähr wissen, was da mich erwartet, ansonsten ist die Chance ziemlich groß, dass ich mich einfach abschotte gegen das, was da in so extremer Intensität auf einwirkt.

   Es geht ums Sterben, aber nicht nur, es geht auch um die Art des Sterbens und auch ums Leben und um die, die zurückbleiben, die weiter leben. Frank und Simone haben zwei Kinder und haben sich eine Häuserhälfte am Stadtrand von Berlin geleistet, beiden haben einen Job und kommen zurecht und sind jetzt halbwegs dort, wo sie immer sein wollten. Dann kriegt er die Diagnose: Ein bösartiger Hirntumor, nicht operabel, weil zu gefährlich platziert und mit einer Lebenserwartung von höchstens noch ein paar Monaten. Die beiden versuchen, tapfer zu sein, versuchen, sich und die Kinder vorzubereiten auf das, was kommen wird, seine Aussetzer, seien zunehmende Unberechenbarkeit, die Hinfälligkeit, die Schmerzen, das schnelle Dahinsiechen. Die Eltern versuchen auch, tapfer zu sein, Freunde und Verwandte eben so, und professionelle Hilfe gibt es auch, dennoch gibt es nichts und niemanden, der die Familie behüten kann vor all den schlimmen Szenen, Ängsten, Frustrationen und Tränen, die in den folgenden Monaten ihr Leben bestimmen. Anfängliche Ausflüge ins Tropical Island sind bald passé, das bislang ganz normal geregelte Familiendasein sowieso, der Papa ist kein Papa mehr, sondern ein zunehmend hilfloser, kraftloser, verfallender, sich einnässender und manchmal jähzornig tobender kranker Mann, der Zettel braucht, um sich halbwegs zurechtzufinden, der in Lillys Zimmer auf den Boden pinkelt, der kein Bett mehr bauen kann, der die Worte nicht mehr findet und der manchmal eine fürchterliche Belastung ist für alle. Simone gesteht der mobilen Ärztin in einem Moment totaler Erschöpfung, dass sie sich manchmal wünscht, es sei endlich vorbei. Dennoch halten sie alle durch, bis er bettlägerig wird, verlegen ihn nicht ins Hospiz sondern richten ihm zuhause alles ein, verabschieden sich von ihm und er kann daheim in Ruhe sterben.

 

   Fast zwei Stunden sieht Andreas Dresen mit Geduld und Unerbittlichkeit zu, wie diese Familie mit aller Kraft darum kämpft, zusammen zu bleiben und zurecht zu kommen. Sie schafft es letztlich, und darum geht es und das ist die große Geste des Films. Natürlich gehen sie alle an ihre Grenzen und darüber hinaus, natürlich wünscht sich Simone zwischendurch, dass Frank endlich einschläft, natürlich sind die Kinder überfordert, auch emotional, und wollen manchmal einfach nichts damit zu tun haben. Mika fragt, ob er Papas Ipod haben kann, wenn er tot ist, und Lily flüchtet immer mal zur Freundin, einfach um mal rauszukommen. Das wird nicht verurteilt und auch nicht als gefühllos dargestellt, das ist ganz normaler Selbstschutz, ohne den alle drei früh kaputt gegangen wären. Dann wieder sind die da, sind beim Vater, lassen ihn nicht allein und unterstützen die Mutter, die nun alles allein regeln muss, Beruf, Haushalt, Kinder, die Pflege des Mannes. Mit viel Gefühl zeigt Dresen die ungeheure Kraft, die gerade sie aufbringen muss, nicht nur, um ihren Alltag zu bewältigen, sondern auch, um ihre eigene Trauer, Verzweiflung und Erschöpfung zu beherrschen, um weiter zu funktionieren, auch wenn sie manchmal am liebsten loslassen und alles hinwerfen würde. Zwischendurch gibt es dann auch ein paar hellere, zärtliche oder auch komische Momente (ohne die der Film wohl kaum zu ertragen wäre), die uns verständlich machen, was diese Familie auszeichnet und was sie auch jetzt noch intakt und zusammen hält. Wie fast immer entwickelt Dresen die Geschichte aus vollkommen alltäglichen Situationen und gibt ihr einen alltäglichen Rahmen. Das Leben spielt sich ab zwischen daheim im x-beliebigen Neubaughetto am Stadtrand, im Job, im Schwimmbad, im Vergnügungspark, im Baumarkt, in der Arztpraxis, alles ganz dicht an unserer eigenen Erfahrung, alles mehr oder weniger wiedererkennbar. Die Leute sind ganz normale Leute mit normalen Gefühlen, keine Helden oder Märtyrer und auch kein Personal fürs große Melodrama. Obgleich der Film mir zwischendurch das Herz zerreißen will, hat er mit Kitsch nicht mal im entferntesten zu tun, er unternimmt auch nichts, um Emotionen zu forcieren, Effekte zu heischen oder unsere Reaktionen zu erzwingen. Er wirkt so enorm und manchmal schier erdrückend stark, weil er alles ganz in Ruhe zeigt, ganz einfach, weil nicht wegschneidet, wenn andere längst zur nächsten Szene gesprungen wären, weil er so nahe an den Personen und ihrer Situation bleibt. Die Schauspieler leisten unglaubliches, vor allem Peschel und Kühnert spielen sich buchstäblich die Seele aus dem Leib, und ich kann mir vorstellen, dass man selbst als Profi so was nicht allzu oft machen kann oder will. Mir fällt nichts anderes ein, als diesen Film menschlich in seiner ganzen Essenz zu nennen, er beinhaltet fast alles, was mir am Kino elementar wichtig ist, und obwohl ich ihn sicherlich auch nicht allzu oft sehen möchte, ist er für mich ohne Frage einer der besten, wichtigsten und unverzichtbaren deutschen Filme der letzten Jahre. (14.12.)