Jane Eyre von Cary Fukunaga. England, 2011. Mia Wasikowska, Michael Fassbender, Jamie Bell, Judi Dench, Su Elliot, Holliday Grainger, Tamzin Merchant, Amelia Clarkson, Sally Hawkins
Das es so was heut noch gibt! Ein richtig toller Literaturfilm, toll in jeder Hinsicht, sowohl auf literarischem als auch filmischem Gebiet, eine Adaption, die mehr tut, als nur die Essenz der Vorlage zu bewahren, die bis in sprachliche Details hinein darum bemüht ist, die Atmosphäre und Motiven über mehr als hundertfünfzig Jahre hinweg in die heutige Zeit zu transportieren, zugleich werkgetreu und modern zu sein – und die das auch noch schafft und zwar auf die brillanteste Weise! Große Kunst fürwahr.
Charlotte Brontës wunderbarer viktorianischer Klassiker entsteht so buchstäblich zu neuem Leben, man kann richtig schwelgen in grandiosen Landschaftsplateaus, gothischem Grusel, großer Tragödie und einem Hauch feministischen Bewusstseins. Drehbuch und Regie leisten Bemerkenswertes: Von Beginn an entsteht ein unwiderstehlicher Sog aus purer Emotion, der Film hat uns sofort im Griff und lässt uns zwei Stunden lang nicht mehr los. Die Geschichte wird trotz der Rückblendenstruktur sehr straff und geradeaus erzählt, dabei findet Fukunaga zwischendurch reichlich Raum, sich der Hauptperson zu widmen, sowohl als Waisenkind in Lowood als auch als junge Gouvernante aus Thornfield Hall. Ihre Empfindsamkeit filtert für uns die gesamte Geschichte, wie ein feiner Sensor reagiert sie auf Stimmungen, Bedrohungen, Geheimnisse, und mit Mia Wasikowska hat Fukunaga eine Hauptdarstellerin gefunden, die diese Herausforderung mit Bravour meistert und ein faszinierend detailliertes, nuanciertes und feinnerviges Porträt der jungen Jane Eyre liefert. Sie trägt den Film mit eindrucksvoller Souveränität, hat allerdings mit Michael Fassbender auch einen ebenbürtig starken Partner, für mich etwas überraschend, wie ich zugeben muss, denn nach seinem recht stockigen Auftritt als C.G. Jung in Cronenbergs Psychoschmonzette vor kurzem hätte ich mir nicht vorstellen können, dass er als Rochester eine derart starke Wirkung entfalten könnte. Aber er tut’s und bildet mit Wasikowska ein tolles Paar, dem man atemlos zusieht und zuhört. Dazu gibt’s dann mit Jamie Bell und Judi Dench zwei sehr starke Nebendarsteller, die ihren Rollen auch in kürzerer Zeit ein markantes Profil geben.
Auf selten glückliche Art verbindet Fukunagas Film klassisches Erzählkino mit spannenden, komplexen Charakterisierungen. Er bedient sich ungeniert und sehr gekonnt bei den Versatzstücken gothischer Schauerromantik, umreißt die gesellschaftlichen Strukturen des ländlichen, entlegenen und von Religiosität und Standesdenken geprägten Raums, übernimmt ebenso Brontës vorsichtige und dennoch deutliche Infragestellung der weiblichen Rolle in dieser Gesellschaft und lässt Jane eintreten für mehr Selbstbestimmung und Freiheit, auch im Denken. Hinter der zerbrechlichen, schüchternen Fassade birgt sie eine Stärke, die sich dem ruppigen, egozentrischen Rochester sofort mitteilt, und es ist schon toll zu sehen, wie Wasikowska einerseits ihre Darstellung entwickelt, und wie zurückhaltend und subtil sie Janes Entwicklung nachvollzieht, und wie Fassbender andererseits die Wandlung Rochesters zeigt, wie er auf Jane reagiert, wie er anfangs mit dem Mädchen spielt und bald merkt, dass sie ihm auf gewisse Weise ebenbürtig ist. Gerade in den Szenen zwischen den beiden ist die Regie extrem fokussiert, ganz nahe dran, und als Zuschauer habe ich kaum die Zeit, die äußerst kunstvolle Ausleuchtung der Innenräume zu beobachten oder die wunderschöne Musik zu genießen.
Ich muss gar nicht viel mehr Worte machen – dies ist einer der besten Filme des Jahres, keine Frage, brillant als Literaturfilm, brillant als Psychostudie, als Liebesdrama, als viktorianisches Gemälde, brillant im Zusammenspiel von Bild und Ton, Wort und Spiel, kurz, der reine Genuss. Und wenn die Filmwelt jetzt auf den Geschmack kommt und die Brontës wieder ausgräbt (sie wären ja irgendwie auch dran...), dann kann ich nur hoffen, dass das auf annähernd hohem Niveau stattfindet wie dieser Film. (12.12.)