Les petits mouchoirs (Kleine wahre Lügen) von Guillaume Canet. Frankreich, 2010. François Cluzet, Marion Cotillard, Benoît Magimel, Gilles Lellouche, Valérie Bonetton, Pascale Arbillot, Laurent Lafitte, Anne Marivin, Louise Monot, Joel Dupuch, Jean Dujardin

   Alle Jahre wieder kommen sie zusammen, im Sommer, auf Max’ luxuriösem Ferienanwesen am Bassin von Arcachon, eine große Handvoll Freunde aus Paris, alle ungefähre Mitte bis Ende Dreißig, alle mehr oder weniger in gutbürgerlicher Existenz, die einen mit Frau und Kind, andere in fester Beziehung, wieder andere in loser Beziehung und wieder andere ohne Beziehung. Man lässt sich’s gut gehen, fährt mit Max’ Boot raus, fährt Wasserski, döst in der Sonne, konsumiert reichlich feste und flüssige Lebensmittel und bemüht sich nach Kräften, eine schöne, entspannte Zeit miteinander zu verbringen. Dieses Jahr allerdings wird stark überschattet durch einen schlimmen Motorradunfall, den einer aus ihrem Kreis, Ludo, nach einem Discobesuch hatte. Nun liegt er schwer entstellt im Krankenhaus, die Freunde zaudern kurz, ob sie seinetwegen vielleicht auf ihren Urlaub verzichten wollen, entscheiden sich dann aber doch dagegen, weil sie ihm ja eh nicht helfen können. Aber auch andere Faktoren erschweren die kollektive gute Lauen empfindlich: Max bekommt kurz vor der Abfahrt eine Liebeserklärung von Vincent, die ihn vollkommen aus der Fassung bringt, zumal Vincent mitsamt seiner Familie natürlich wie immer mit von der Partie ist. Marie läuft ständig irgendwelchen unglücksseligen Affären davon, weiß aber auch nicht, wohin die Reise für sie gehen soll. Eric vögelt sich locker durch’s Leben, bis ihn seine Freundin entnervt verlässt, was er wiederum nicht ertragen kann. Antoine nervt alle mit seiner Juliette, die sich von ihm getrennt hat, der er jedoch noch immer besinnungslos nachläuft. Und so weiter. Diese närrische, einfältige, egozentrische und zutiefst stinknormale Treiben geht so lange, bis Jean-Louis, ein einheimischer Muschelzüchter und alter Freund der Gruppe, den Dummköpfen aus der Stadt mal so richtig den Kopf wäscht und ihnen vorhält, wie idiotisch und verlogen sie sich allesamt aufführen. Dann erreicht sie die Nachricht von Ludos Tod, und es kommt bei der tränenreichen Beerdigung offenbar zu einer allgemeinen Besinnung und Versöhnung.

   Diese äußerst ausgewalzte Trauerorgie ist die einzige Sequenz, die mir vermutlich nicht so gut gefallen hat an diesem Film. Entweder ist sie monumental sarkastisch und durchtrieben, was ich aber nicht glaube, oder aber sie ist einfach ein wenig zu lang und zu melodramatisch, womit sie auch ganz und gar nicht zum Rest dieser sehr langen und sehr gründlichen Studie passt, die sich ansonsten mit ebensoviel Ironie wie Sympathie einer ganz normalen Bande von Bourgeois widmet und uns allen vor Augen führt, wie schön langsam aber sicher aus uns allen selbstsüchtige, verlogene, frustrierte, feige Arschlöcher werden – und das macht Canet, der sich offenbar jederzeit voll dazuzählt, so schön und mitfühlend, dass wir uns alle immer wieder selbst erkennen, aber nie wirklich verletzt oder niedergeschlagen sind, weil das Leben eben so läuft. Manchmal ist das alles herzzerreißend witzig und doof, manchmal auch erschütternd, manchmal traurig, manchmal albern, immer aber ziemlich dicht dran am Leben. Wir sehen, wie die Freunde sich regelrecht in den Urlaub flüchten, um ihr schlechtes Gewissen, ihre Hilflosigkeit im Kollektiv aufzulösen und zu verbuddeln, doch unbeschwerte, freie gute Laune will nie so recht aufkommen, und immer wieder entladen sich Spannungen und jede Menge unausgesprochener und bewältigter Konflikte in jähen Ausbrüchen, die nicht selten die Kinder abkriegen, die so ziemlich die einzigen völlig Unbeteiligten in dem ganzen Haufen sind. Ich kann diese Leute mal lächerlich finden, mal nett und mal zum Kotzen, ich kann mich aber unmöglich von ihnen distanzieren, weil ich in vielen von ihnen Eigenschaften von mir selbst erkenne, weil ich eben auch nur ein ganz normaler Bourgeois bin. Canet bleibt zunächst ein wenig distanziert, dabei sehr aufmerksam im Detail, er nimmt sich geschlagene zweieinhalb Stunden, die übrigens zu keiner Zeit langweilig werden, um das Miteinander dieser Gruppe in möglichst vielen Facetten zu beleuchten, wobei es ihm zudem brillant gelingt, die typische Urlaubs- und Sommeratmosphäre an der französischen Atlantikküste einzufangen – man kann sich alles wirklich haarklein vorstellen, die Sonne, den Wind, das Meer, die Wärme, und das allein ist schon wunderbar. Wie sich dann die Freunde von einer Eruption über zwischenzeitliche Frieden- und Ruhephasen zur nächsten Krise voranarbeiten, bis sie letztlich doch unweigerlich dazu gezwungen werden, sich mit dem auseinander zu setzen, was sie um jeden Preis verdrängen wollten (die Frauen übrigens ganz genau so wie die Männer!), das ist wirklich sehr stark und eindrucksvoll gemacht, und wird von einem tollen Ensemble toll gespielt. Natürlich ist dies ein Ensemblefilm, der von der Stimmigkeit der Besetzung lebt, der Chemie zwischen den Akteuren, den vielen Kleinigkeiten und Feinheiten, und was die Schauspieler hier dafür tun, ist schon extraordinär und macht großen Spaß.

 

   Filme zum Thema Freundschaft und was im Laufe der Zeit daraus wird, liegen mir immer am Herzen, und es gibt ein paar sehr gute davon. Dieser hier gehört für meinen Geschmack zu den besten, er ist zugleich sehr schön und zärtlich, dann auch wieder unbequem direkt und offen, er ist letztlich versöhnlich, was mir auch gefällt, auch wenn mir wie gesagt der Schluss zu dick aufgetragen war (selbst die fabelhafte Nina Simone kann nicht alles retten). Ein erstklassiger Soundtrack begleitet das launische Miteinander der Gruppe, einige wunderbare Sommerbilder vom Meer, und zwischendurch gibt es immer wieder ein paar Szenen, die mir durch und durch echt und wirklich erschienen sind. Mal möchte ich unbedingt dazu gehören, mal um keinen Preis – ganz so, wie es oft mit den Freunden ist. Tolles französisches (sehr französisches!) Kino. (11.7.)