Le Havre von Aki Kaurismäki. Frankreich/Finnland/BRD, 2010. André Wilms, Kati Outinen, Blondin Miguel, Jean-Pierre Darroussel, Elina Salo, Evelyne Didi, Jean-Pierre Léaud 

   Nach langen Jahren der Abstinenz ist er wieder da, der alte Finne, und es ist so, als sei er nie fort gewesen. Wie gewohnt schickt er seine traurigen, stoischen Helden hinaus in die kalte Welt, wie immer ist diese Welt merkwürdig kahl, unbehaust, bestenfalls von würdevoller Schlichtheit, nur im Unterschied zu früher erleiden die Helden diesmal keine endlosen Niederschläge, sondern sie siegen im Dienste des Guten und Menschlichen. Klar, dieser Film ist auch ein Märchen!

   Wir sehen Marcel, der in Le Havre Schuhe putzt und einen afrikanischen Jungen trifft, der mit vielen anderen aus seinem Land illegal eingeschleust wurde und nun von der Polizei gejagt wird. Ehrensache für den struppigen Freigeist, den Jungen zu verstecken und nach einem Weg zu suchen, ihn rüber nach London zu schaffen, wo ein Teil seiner Familie lebt. Marcels Bemühungen sind mutig und fantasievoll, erfolgreich sind sie aber nur deshalb, weil der Kommissar, der ihn schon länger auf dem Kieker hat, plötzlich Gnade vor Recht gehen lässt und den Jungen vor den eigenen uniformierten Kollegen verbirgt. Parallel dazu sehen wir Marcel und seine Frau Arletty, die schwer krank ins Krankenhaus kommt, um ein paar Wochen später wie durch ein Wunder geheilt zu werden. So muss es auch sein, weiß sie, denn allein wäre der gute Marcel vollkommen hilflos.

   Wie alle anderen vor ich ist auch „Le Havre“ sofort als Kaurismäki-Film zu identifizieren: Niemand schaut seinen Protagonisten so ins Gesicht, niemand beleuchtet Innenräume so, niemand stattet die Handlungsorte so spartanisch aus (vor allem das Krankenhaus!), niemand lässt die Schauspieler so reduziert, fast introvertiert agieren. Was früher vor allem trüb und traurig war, ist heute ein wenig heller, gelassener, aber keineswegs seichter. Kaurismäkis Sympathie und unbedingte Solidarität gehört nach wie vor den vermeintlichen Verlierern, den Randfiguren, die sich ungeachtet aller Tiefschläge ihren Stolz, ihre Integrität bewahrt haben, so wie Marcel eben, der zwar im bürgerlichen Sinn nicht mehr viel „darstellt“, der dennoch mit einer gehörigen Portion Frechheit und stoischer Entschlossenheit auftritt. In seinem Viertel, einem Viertel ärmlichster Behausungen, ist er bekannt, in seiner Stammkneipe sowieso, ein liebenswerter Schnorrer, dem niemand böse sein kann, und wie André Wilms ihn spielt, ist er eine wunderbare Hauptfigur. Ihm gegenüber Darroussin als misstrauischer, immer etwas griesgrämiger Bulle, der Marcel nicht aus den Augen lässt und im entscheidenden Augenblick urplötzlich die Seiten wechselt, eine von zwei märchenhaften Wendungen – die andere betrifft natürlich Arlettys überraschende Genesung, denn eigentlich hatte sie eine tödliche Diagnose, von der nur Marcel nichts erfahren sollte. Nach der Logik dieses Films hat Marcel sein Glück verdient, weil er ganz einfach ein guter Mensch ist, weil er sich bemüht, etwas Gutes zu tun, weil er nicht gleichgültig zusieht, wie die Behörden gnadenlos alle Flüchtlinge internieren und wieder zurückschicken. So einer, denkt man, hat es verdient, dass das Schicksal ihm zweimal auf die Sprünge hilft, weil er sich ansonsten prima selbst helfen kann und es auch noch fertig kriegt, die Nachbarschaft für sein Projekt einzuspannen und den Bullen einen Streich zu spielen.

 

   All dies wird wie immer mit unnachahmlich coolem Humor garniert, dazu gibt es ein paar schön romantische Impressionen aus der wahrlich nicht fotogenen Stadt in der Normandie und ein Wiedersehen mit Antoine Doinel, der diesmal einen fiesen Denunzianten spielt, um uns wohl daran zu erinnern, dass die Welt leider nicht nur von Gutmenschen bevölkert wird. Die aber behalten hier die Oberhand, und ein einziges Mal wollen wir auch dran glauben. Es wäre schön, wenn Kaurismäki auch weiterhin wenigstens ab und zu ein Lebenszeichen von sich gäbe, zumal wenn es so hoffnungsvoll ausfällt wie dieses. (13.9.)