Melancholia von Lars von Trier. Dänemark/Schweden/Frankreich/BRD, 2011. Kirsten Dunst, Charlotte Gainsbourg, Kiefer Sutherland, Cameron Spurr, Alexander Skarsgård, Stellan Skarsgård, Brady Corbet, Charlotte Rampling, John Hurt, Jesper Christensen, Udo Kier
Nach dem arg spekulativ ausgefallenen Psychohorror von „Antichrist“ geht von Trier mit diesem Film zugleich einen Schritt vor und zurück. Zurück sicherlich, was seinen Hang zur visuellen Provokation angeht (gottseisgedankt, möchte man sagen), vor aber zweifellos in Bezug auf die inhaltliche Radikalität, und hier scheint er jetzt irgendwie am Ende der Fahnenstange angelangt zu sein, denn in „Melancholia“ geht’s, zumindest im zweiten Teil, um nicht mehr oder weniger als den Weltuntergang höchstpersönlich. Die unsägliche Publicity, die möglicherweise aus von Tiers idiotischem Geschwafel in Cannes erwachsen könnte, hat der Film im übrigen nicht nötig, denn er hat für sich genommen beachtliche Qualitäten, und von Trier hätte wirklich nicht dieses peinlichen Auftritts bedurft, um Aufmerksamkeit zu erwecken.
In zwei Teilen stellt von Trier eine mehr private Apokalypse dem totalen, absoluten Weltwende gegenüber. Er porträtiert zwei Schwestern, Justine und Claire, denen er jeweils einen Teil des Films widmet. Im ersten Teil erleben wir Justines Hochzeit, oder besser den Versuch, die zu verheiraten, was in überaus pompösem Stil auf dem Landsitz von Claire und ihrem reichen Mann John zelebriert wird. „Das Fest“ von Tomas Vinterberg lässt grüßen: Eine echte Gruselhochzeit randvoll mit protzigem, großbürgerlichem Dünkel, Zwang und Krampf, den unvermeidlichen Ritualen und einer Menge Leute, die alles zu haben scheinen außer Spaß. Justine, von dunklen Traumbildern heimgesucht, ist in tiefster Depression gefangen und fast unfähig, sich überhaupt nur zu rühren, geschweige denn, zu ihrer Umwelt wirklich dauerhaften Kontakt aufzunehmen. Ihr Bräutigam Michael ist der Situation hilflos ausgeliefert und verlässt seine Frau schon am Hochzeitsabend wieder. Claire ist eifrig darum bemüht, den Schein zu wahren, wirkt jedoch mit zunehmender Dauer immer verbissener und frustrierter. John ist nur daran interessiert, seinen Wohlstand gebührend zu präsentieren und jedermann klarzumachen, wie viel Geld ihn dieses Fest gekostet habe. Der Brautvater ist ein liebenswürdiger, aber ziemlich verwirrter und planloser älterer Herr, der vor allem am Alkohol und jungen Damen interessiert ist. Die Brautmutter, seit langem geschieden, verbittert, kalt und zynisch, lehnt den ganzen Rummel sowieso ab und kann ihrer Tochter nicht ein einziges Mal etwas wie Zuneigung entgegen bringen. Dann noch Justines Chef, der ihr Talent als Verfasserin griffiger Marketingsätze schätzt und zu diesem Zweck einen jungen Kollegen auf die Fährte setzt, um ihr einen neuen Slogan zu entlocken. Der Abend gerät zunehmend zum Fiasko, die Braut zieht sich total zurück, fast kein geplanter Programmpunkt klappt, und dann kommt Teil zwei, in dem wir die beiden Schwestern, John und Leo, den Sohn von Claire und John sehen, wie sie am nächsten Morgen zur Normalität zurückkehren wollen. Doch daraus wird auch nichts, denn seit Tagen ist ein geheimnisvollere, riesiger Planet namens Melancholia aufgetaucht, der hinter der Sonne hervorgekommen ist und sich nun bedrohlich nähert, und obgleich Wissenschaftler beteuern, dass er die Erde nicht treffen werde, gerät Claire zunehmend in Panik. John hantiert zunächst nach Männerart mit technischen Geräten herum, beobachtet fasziniert den neuen Planeten und schenkt den Berechnungen vollstes Vertrauen, doch spätestens als er mit Tabletten im Pferdestall Selbstmord verübt, ahnen wir, dass diese Berechnungen falsch waren.
Diese letzten Minuten, in denen wir Claire, Leo und Justine sehen, die mehr oder weniger auf den Aufprall und damit den sicheren Tod warten, haben es schon in sich. Mir scheint, sie haben auch in mir eine gewisse Urangst angerührt, denn das Bild des unaufhaltsam der Erde entgegenrasenden, immer größer werdenden Planeten, fand ich ziemlich erschreckend und aufwühlend. Von Trier macht aus alledem kein großes Effektspektakel, die Kollision selbst ist nach einer Sekunde vorbei, das Bild tot, trotzdem fand ich mich von diesem Gedanken weitaus stärker beeindruckt als von all den anderen Untergangsszenarien, mit denen wir sonst so im Kino konfrontiert werden.
Ansonsten ist dies eher eine Mischung aus Psychodrama und böser Gesellschaftssatire mit durchaus apokalyptischen Zügen, denn was sich dort am Hochzeitsabend entfaltet, stimmt nicht gerade zuversichtlich im Hinblick auf den Fortbestand der menschlichen Rasse. Erstaunlicherweise aber übt sich von Trier nicht ausschließlich in grimmigem Spott, er mischt auch leise, zärtliche Töne dazwischen, vor allem in den Szenen mit Justine, die einer Schlafwandlerin gleich durch das Geschehen treibt und nicht imstande ist, Gefühle wie Freude oder Glück, oder Gefühle überhaupt zu entwickeln. Niedergedrückt von Schwermut und ihrer Krankheit will sie nur schlafen oder allein sein, alle Versuche, mit jemandem aus der Familie zu sprechen, schlagen fehl, und letztlich bleibt nur der totale Zusammenbruch jener Welt, deren Aufbau sie zuviel Kraft gekostet hat. In dieser Phase ist Claire die Stärkere, die Aktive, die Fordernde, und erst gegen Ende verkehren sich plötzlich die Rollen, als Claire vor Angst völlig aus der Fassung gerät und Justine zu einer tiefen Ruhe findet und sich sogar noch um ihren hilflosen Neffen kümmern kann, der nichts von dem begreift, was um ihn herum vor sich geht. Kirsten Dunst und Charlotte Gainsbourg gestalten ihre Rollen mit jener faszinierenden Intensität, die von Trier seit jeher seinen Darstellerinnen abzuringen verstand, und die im Fall von Dunst auf jeden Fall weit über das hinaus geht, was wir von ihr erwarten konnten. Wenn man die etwas irritierenden, auf Kunstgewerbe getrimmten Anfangsbilder und die für meinen Geschmack etwas zu feierliche Beschallung mit Wagnerklängen beiseite lässt, hat von Trier noch immer jenen klaren, direkten und schonungslosen Blick auf die Menschen und ihre Verhältnisse, nur das er sich diesmal wieder mit seiner berüchtigten Polemik und Lust zur Provokation zurückgehalten hat, was dem Film gut tut. Mir hat er trotz einer gewissen Unausgeglichenheit sehr gefallen, nicht nur wegen der wie gewohnt überragenden Schauspieler, sondern auch wegen der Kraft der Bilder und der Konsequenz, den Gedanken vom Untergang wirklich bis zuende zu denken und uns damit dann im Kinosaal zurückzulassen. Kein leichter Schluss auf jeden Fall. (6.10.)