Min Dît (#) von Miraz Bezar. Türkei/BRD, 2009. Senay Orak, Muhammed Al, Hakan Karsak, Suzan Ilir, Berivan Ayaz, Berivan Eminoglu, Recep Özer, Mehmet Inci

   Die Kinder von Diyarbakir: Eine große Stadt weit in Anatolien, vorwiegend von Kurden bewohnt und deshalb häufig Zielscheibe des Terrors türkischer Paramilitärs. Der trifft eines Tages auch die Familie der zehnjährigen Gülistan und ihres jüngeren Bruders Firat. Obwohl die Eltern politisch nicht mal besonders aktiv sind, werden sie nachts bei einer Überlandfahrt von zwei Angehörigen der Paramilitärs angehalten und erschossen. Die drei Kinder, es gibt noch die jüngste Schwester Dilovan im Babyalter, werden zunächst von ihrer Tante versorgt, die ihrerseits politisch stark engagiert ist und eine Ausreise nach Europa arrangieren möchte. Als sie schließlich auch verschwindet, drohen die Kinder in Elend und Mittellosigkeit zu versinken, und als die kleine Dilovan stirbt und die Kinder die Wohnung verlieren, müssen sie auf der Straße lernen, zu überleben. Sie nehmen Kontakt zu anderen Straßenkindern auf, schlagen sich durch, und als Gülistan eines Tages den Mörder ihrer Eltern wiedersieht, machen sie zusammen einen Plan, um ihn öffentlich bloßzustellen. Das gelingt, und auch die vorübergehende Flucht aus dem Elend: Zusammen mit anderen Kindern werden die Geschwister in einen Lieferwagen verfrachtet und ins weit weit entfernte Istanbul, wo man mit Diebstahl und kleinen Gaunereien ungleich mehr verdienen kann als hier im Osten. Der letzte Blick gilt Gülistan und die letzten Gedanken auch: Ihre Zukunft wird wahrscheinlich irgendwo zwischen Drogen, Prostitution und Kriminalität liegen.

 

   Ein sehr eindrucksvoller Film, in dem sich verschiedene Elemente mischen: Zum einen gibt es erschütternde Szenen von Gewalt und Armut, dagegen stehen Momente der Hoffnung und der Freundschaft. Gerade letzteres ist aber gar nicht so selbstverständlich. Zu meiner Überraschung wird hier eine Gesellschaft abgebildet, die durchaus nicht so solidarisch ist, wie ich es erwartet hatte, sondern die sich in vielen Punkten als genauso hartherzig und kalt erweist, wie man es gern den Westeuropäern vorhält. Die mittel- und hilfslosen Kinder erhalten zwar zunächst Hilfe von mehreren Seiten, doch nach und nach bröckelt die Zuwendung ab, ein jeder verfolgt eigene Interessen, und der Vermieter fackelt auch nicht lange und wirft die Geschwister einfach auf die Straße, ohne einen Gedanken an deren Schicksal zu verschwenden. Erst unter den Außenseitern, die nichts mehr zu verlieren haben, scheint es so etwas wie Solidarität zu geben, was vor allem Gülistan dringend nötig hat, denn mehr noch als ihr eher stoischer Bruder sorgt sie sich fortlaufend um ihre Zukunft. Sie lernt eine junge Ehefrau kennen, die sich nebenbei als Prostituierte verdingt, erfährt etwas über die moderne Form des Warentauschs und trifft auf diesen Wegen ausgerechnet den Mörder ihrer Eltern, ein auch in privaten Zusammenhängen äußerst perfides, faschistisches Schwein. Sie kann ihn zwar nicht töten, doch mit Hilfe der anderen Kinder öffentlich an den Pranger stellen und sich somit zumindest ein wenig für die nachhaltige Zerstörung ihres eigenen Lebens revanchieren. Der Film äußert sich politisch nicht mal besonders explizit, dennoch werden Formen und Folgen türkischer Gewaltherrschaft in den kurdischen Gebieten überaus deutlich. Hier und da ein Mord, eine Folterung, ein paar Verhaftungen, die stete Bedrohung politischer Aktivisten und das Wissen, dass man fernab der internationalen Öffentlichkeit so gut wie keine Lobby hat (zumal nicht im Westen, wo man es mit den Türken nicht gern verderben möchte), prägen das Leben der Kurden, bestimmen ihre Identität. Es ist eine besondere Qualität des Films, das er all dies so aufbereitet, dass auch jüngere Zuschauer Zugang zu diesen Themen haben, denn gerade an sie richtet er sich in vielen Szenen. Er zeichnet folglich nicht ein durchgehend deprimierendes Bild, sondern fügt durchaus hellere Momente ein – nicht aber zum Schluss. Das Bild des jungen Mädchens, das einer höchst unsicheren und vermutlich katastrophalen Zukunft in der fernen großen Stadt entgegenfährt, ist das ultimative Bild eines Opfers der Verhältnisse, der Strukturen. Sie kann sich nicht gegen die wehren, sie kann höchstens versuchen, sich ihnen anzupassen und irgendwie zu überleben. Mit diesem letzten Bild aber wird auch dies ausdrücklich in Frage gestellt, und folglich werden zum abschließenden Hip-Hop-Song triste Impressionen aus dem Straßenleben Jugendlicher präsentiert, die eine Art Vorschau auf Gülistans und Firats Zukunft sein könnten. Der Zuschauer ist gefordert, die entsprechenden Schlüsse und Verbindungen selbst herzustellen, allzu explizite Aussagen sind angesichts der starken, eindrucksvollen Bilder nicht nötig, und selbst wer nicht im Detail mit der türkischen Kurdenpolitik vertraut ist, bekommt zumindest eine starke Anregung, welch miese, brutale Machenschaften seit Jahr und Tag im Interesse des diplomatischen Kalküls unter den öffentlichen Teppich gekehrt werden. (3.6.)