Jodaeiye Nader az Simin (Nader und Simin – Eine Trennung) von Asghar Farhadi. Iran, 2011. Peyman Moadi, Leila Hatami, Shahab Hosseini, Sareh Bayat, Sarina Farhadi, Babak Karimi, Ali-Asghar Shahbazi, Merila Zarei
Filme aus dem Iran haben sich mir bislang in der Regel wenig erschlossen. Je euphorischer sie mit schöner Regelmäßigkeit von den Festivaljurys in aller Welt bejubelt wurden, desto unzugänglicher und zum Teil langweiliger fand ich sie. Und nicht mal die Aussicht, Einblicke in Kultur und Lebensweise eines vergleichsweise fernen und fremden Landes zu erhalten, hat dieses Manko für mich wettmachen können. Diesmal drohte also das bekannte Spiel: „Nader und Simin“ wurde auf der Berlinale gefeiert und hoch dekoriert, in allen „ernsthaften“ Feuilletons als Meisterwerk gepriesen, und ich dachte noch, na, was das wohl wird. Zwei Stunden später war ich dann um ein Trauma ärmer, denn dies ist tatsächlich ein Meisterwerk und ein in jeder Hinsicht außerordentliches Kinoerlebnis. Ein unerhört minutiöser, grausam unerbittlich konstruierter Malstrom, der zwei Familien mit sich in die Tiefe zieht und am Ende kaum einen Ausweg offen zu lassen scheint.
Zum Auftakt erscheint die Konfliktlinie noch sehr überschaubar: Nader und Simin wollen sich scheiden lassen, nicht, weil sie sich nicht mehr lieben, sondern weil er sich weigert, mit seiner Ehefrau und Tochter ins Ausland zu ziehen und weil sie nicht akzeptieren kann, dass er seinen alten, demenzkranken Vater nicht im Iran zurücklassen möchte. Sie wirft ihm vor, die Zukunft der Tochter aufs Spiel zu setzen, er wirft ihr vor, rücksichtslos den schwer kranken alten Mann sich selbst überlassen zu wollen. Verbittert und verstockt sitzen sie einander gegenüber und es gibt für’s erste keine Verständigung zwischen ihnen, auch oder erst recht nicht, als der Richter Simins Gesuch zurückweist und ihr praktisch befielt, weiter mit ihrem Mann verheiratet zu bleiben. Immerhin verlässt sie die gemeinsame Wohnung und zieht zu ihren Eltern, während Nader bei seinem Vater bleibt und die Tochter Termeh bleibt wiederum bei ihm, obwohl Simin sie mehrmals bedrängt, mit ihr zu leben. So ist der Stand und nun geht’s erst richtig los: Nader engagiert eine Frau, die sich tagsüber, während er arbeitet, um den Vater kümmern soll, es kommt zu einer unglücksseligen Eskalation und im folgenden entwickelt sich ein Drama, das mit total reduzierten filmischen Mitteln und unter gänzlichem Verzicht auf jegliches Spektakel arbeitet und dennoch spannender, mitreißender und nervenaufreibender ist als neunzig Prozent aller sogenannter Spannungsfilme. Die Verstrickung zweier Familien wird immer komplexer, immer erhalten wir neue Informationen, werden dazu aufgefordert, den Sachverhalt aus einem anderen Blickwinkel zu sehen, die Präzision der Darstellung und Unausweichlichkeit der Ereignisse sind dermaßen zwingend, dass ich wirklich zwei Stunden lang hochgradig angespannt zugesehen habe, ständig zerrissen zwischen Mitgefühl und Wut und vor allem dem dringenden Wunsch, allen Beteiligten ins Gewissen zu reden, einfach mal ehrlich miteinander zu sein, einmal die Wahrheit zu sagen, selbst wenn es schwer wird. Vor allem Nader wird regelrecht zu einer tragischen Figur, die sich scheinbar ohne Not in den Abgrund zieht, und die immer wieder die Möglichkeit hat, diesen Prozess aufzuhalten, die immer wieder umkehren kann, die einfach nur den einen Schritt tun und zugeben muss, dass sie vielleicht nicht recht hat. Simin baut ihm immer wieder Brücken, Termeh fragt ihn immer wieder eindringlich (und die Antwort wohl wissend), ob er beim Richter wirklich die Wahrheit gesagt hat, doch je beharrlicher er lügt, je störrischer er alle Hilfsangebote abweist, desto tiefer manövriert er sich in eine aussichtslose Situation hinein. Damit ist er durchaus nicht allein, denn auch die geschädigte Frau und ihr Ehemann sind nicht ehrlich, und gerade die Männer betreiben die Kunst der Eskalation nach allen Regeln, wobei sich Stolz und Machismo gegenseitig ergänzen. Auch andere Faktoren beeinflussen Denken und Handeln der Personen, im Fall der Frau Razieh vor allem der Islam, der ihr strenge Dogmen auferlegt und sie schließlich in ein dramatisches moralisches Dilemma stürzt, aus dem sie mindestens ebenso geschädigt hervorgehen wird, wie Nader. Am Ende hat er nicht mal den Mut, seiner Tochter die fürchterliche Entscheidung abzunehmen, bei wem sie künftig leben wird. Stattdessen sehen wir Simin und ihn getrennt voneinander, stumm und einsam im Gang des Gerichts hocken, ein erschütternd trauriges Bild, das uns minutenlang während des Abspanns begleitet.
Wie unter unsichtbaren Zwängen läuft diese Geschichte ab, und ich habe mich in manchen Situationen durchaus wieder erkannt, gerade auch bei Nader, weshalb ich vermutlich um ihn besonders gefiebert habe, und weshalb dieser Film auch so unbarmherzig ist, weil er es Nader konsequent verwehrt, einen einzigen Schritt zurück in Richtung seiner Frau zu tun, denn in der Beziehung zwischen Nader und Simin liegt natürlich die Ursache für das ganze Drama und für seine selbstzerstörerische Starrsinnigkeit. Ein Film, der mich sicherlich nicht so leicht loslassen wird, von den Darstellern grandios gespielt und mit perfektem Gefühl für die Personen, ihre Motive und ihre Situation inszeniert. Unter einer unauffälligen Oberfläche hochgradig manipulativ gestaltet, vor allem in der Zuteilung von wichtigen Informationen, die uns häppchenweise präsentiert werden und uns buchstäblich ins Rotieren bringen. Das tut manchmal ziemlich weh, das ist aber vor allem faszinierend anzusehen, das sind zwei aufreibende, anstrengende Kinostunden, die jede einzelne Minute gelohnt haben. (11.8.)