Poll von Chris Kraus. BRD/Estland/Österreich, 2010. Paula Beer, Tambet Tuisk, Edgar Selge, Jeanette Hain, Richy Müller, Enno Trebs, Yevgeni Sitokhin

   Oda Schaefer musste ich erstmal googlen. Nie gehört den Namen, obgleich sie erst 1988 verstorben ist und der Abspann behauptet, sie sei seinerzeit eine der bekanntesten deutschen Dichterinnen gewesen. Wechselhafte Lebensgeschichte, gerade auch in Bezug auf den Nationalsozialismus, Ehe mit Horst Lange, einem heute ebenfalls weitgehend vergessenen Autor (dessen Name mir aber immerhin noch bekannt ist), Veröffentlichungen dann ab der Nachkriegszeit, heute schwer bis gar nicht mehr zu bekommen, wie uns der Abspanntext ebenfalls verrät. Außerdem ist die Dame eine Großtante von Autor/Regisseur Chris Kraus, und so begründet er im Begleitheft seinen seit Jahren schon bestehenden Wunsch, einen Teil ihrer Lebensgeschichte zu erzählen.

   Er wählt dazu den Sommer 1914 aus, in dem die vierzehnjährige Oda nach dem Tod ihrer Mutter aus Berlin ins ferne Baltikum reist, an die estnische Ostseeküste, wo ihr Vater mit seiner neuen Familie auf dem Gut Poll lebt. Oda scheint ziemlich in der großstädtischen Welt verwurzelt zu sein, und sie gerät nun in eine eigenartige und für sie erschreckende, fremde Gesellschaft. Am Vorabend des Krieges wird Russland von Unruhen erschüttert, die Esten ringen seit Jahrhunderten um ihre Unabhängigkeit, die alteingesessenen deutschstämmigen Balten versuchen mit allen Mitteln, ihren Status zu erhalten und paktieren mit den russischen Militärs, um die aufständischen Einheimischen im Schach zu halten. Odas Vater Ebbo ist Gehirnforscher, ein eigenbrötlerischer Professor, der seit Jahren vom Wissenschaftsbetrieb isoliert lebt und verzweifelt auf einen Neuanfang wartet. Ein Deutschbalte vom ganz alten Schrot, jähzornig, reaktionär, autoritär. Seine zweite Frau ist jünger, auch sie eine Baltin mit viel Standesdünkel und sehr auf Macht bedacht. Wie ihr Mann klammert sie sich an die untergehenden Traditionen, hat ein Verhältnis mit dem Gutsverwalter und betrachtet die eigenwillige, selbstbewusste Oda mit Misstrauen und Eifersucht. Das fragile Gebilde wird beschützt von einem Soldatentrupp, der in den ausgedehnten Schilfwiesen am Meeresufer auf Anarchistenjagd sind und eines Tages auch fündig werden. Ebbo beschafft sich die Leichen der Erschossenen und sägt ihre Schädel auf, um an den Gehirnen „böser Menschen“ seine „Forschungen“ zu betreiben. Einen Anarchisten aber haben die Russen entwischen lasen, und just den trifft Oda auf einen ihrer einsamen Streifzüge in der Umgebung. Sie nennt den verwundeten Mann Schnaps, pflegt ihn mit beim Vater erwobenen Know-how und freundet sich langsam mit ihm an. Er bestärkt sie in dem Ziel, zu schreiben, weckt allerlei romantische Jungmädchenträume in ihr und muss sie schließlich mit sanfter Gewalt und Chloroform davon abbringen, ihm zu folgen, als er endlich wieder gesund ist und fliehen will. Weit kommt er allerdings nicht, denn der rasend eifersüchtige Verwalter kreuzt auf, legt Feuer, und der Anarchist entschließt sich, Oda zu retten, wohl wissend, dass dies ihn selbst das Leben kosten wird.

   Hört sich nach ganz großem Melodrama an, ist es auch, ist aber dennoch ein richtig toller Film geworden, gerade weil Chris Kraus sich die großen Gesten zutraut, genau passend zur Geschichte. Lange habe ich keinen deutschen Film mehr gesehen, dessen Bilder auf ähnliche Weise atmeten, Luft hatten, epische Breite ausstrahlten. Wer so was kitschig und blöd findet, hat völlig recht, das Kino nach zehn Minuten zu räumen, denn natürlich sind sowohl die Geschichte als auch die Personenkonstellationen reichlich kolportagehaft angelegt, aber weil Kraus mit soviel Ernst und Überzeugung an die Sache herangeht, und weil er es dennoch schafft, bei alledem nicht pathetisch, platt oder unseriös zu werden, ist dies ein wirklich eindrucksvolles, kraftvolles, dramatisches und spannendes Familienepos geworden. Meinetwegen auch das Epos einer versinkenden Gesellschaft, die mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges und dessen weiterem Verlauf unweigerlich und endgültig zum Untergang verurteilt war – wie der Abspann feststellt, landen nicht wenige dieser obskuren „Adeligen“ in Sibirien. In seiner Charakterisierung solcher Typen wie Ebbo stellt Kraus aber deutlich klar, dass es ihm nicht um eine nostalgische Verklärung der guten alten Zeiten geht, sondern im Gegenteil um das Porträt einer monströsen, hermetischen Klasse, die in einer grotesken Scheinwelt ihre überkommenen Rituale weiter hegt und pflegt, so als würde um sie herum nichts geschehen. Es wird teutsche Hausmusik zelebriert, es wird teutsche Dichtung vorgetragen, es wird teutsches Kulturgut gepflegt und es wird natürlich Deutsch gesprochen, bis nach Kriegsausbruch die Russen verkünden, dies sei nun die Sprache des Feindes und von nun an dürfe hier kein deutsches Wort mehr zu hören sein. Odas Vater vollzieht eisern die alten Züchtigungsrituale der sadistischen Art und die einheimischen Esten sind für ihn bestenfalls Untermenschen, deren Körper er sich für vermeintlich wissenschaftliche Zwecke aneignet. Fast unberührt von alledem spielt sich Odas Geschichte mit dem Anarchisten Schnaps ab, im Grunde natürlich eine Liebesgeschichte, die von Anfang an unmöglich ist, und die er auch abwehrt, obwohl sein Opfer am Ende andeutet, dass sie ihm doch mehr bedeutet hat als er zeigen wollte.

   Poetische Intimität, düsteres Familiendrama und historisches Zeitbild werden auf sehr überzeugende und vor allem maximal intensive Art und Weise verknüpft. Bilder und Musik unterstützen kongenial eine Dramaturgie, die den Effekt nicht scheut, die aber Nuancen und Zwischentöne zulässt und sich vor allem nicht vom eindringlichen Blick auf die Figuren ablenken lässt. Die Schauspieler sind sämtlich großartig, vor allem Edgar Selge als Ebbo und Paula Beer als die junge Oda, die in der Tat eine sehr eindrucksvolle und der Komplexität der Figur jederzeit angemessene Darstellung bietet.

 

   Wie gesagt, mal wieder ein deutscher Film, der sich was traut, und der auch das Format dazu hat, künstlerisch sowieso, aber auch inhaltlich. Ein echtes Kinoerlebnis – warum nicht. (8.2.)