Über uns das All von Jan Schomburg. BRD, 2011. Sandra Hüller, Georg Friedrich, Felix Knopp, Kathrin Wehlisch, Aljoscha Stadelmann, Valery Tscheplanowa, Stephan Grossmann
Martha erlebt einen Alptraum: Ihr Mann Paul begeht völlig unerwartet Selbstmord, gerade als das Akademikerehepaar von Köln nach Marseille gehen und dort leben will. Und Martha erfährt, dass sie ihren eigenen Mann offenbar nicht kannte: Weder hat er promoviert, noch in den vergangenen vier Jahren überhaupt studiert, und plötzlich scheint es, als habe nicht Martha ihn gar nicht gekannt, sondern auch sonst niemand. In der Uni trifft sie einen anderen Mann, Alex, und zieht ihn sich entschlossen an Land. Alex spürt, dass etwas mit ihr nicht stimmt, und als er zufällig die Wahrheit über Marthas Vergangenheit erfährt, distanziert er sich zunächst. Doch am Schluss kommen sie doch zusammen, ziehen nach Marseille, wo man zuletzt eine lächelnde, schwangere Martha erblickt.
Dieser Schluss hat mich in seiner Abruptheit zunächst ziemlich gestört, zumal ich den gesamten Rest des Film als so stark empfunden hatte. Wenn ich einen Tag später nochmal drüber nachdenke, finde ich ihn immer noch etwas sehr knapp, in gewisser Hinsicht aber auch recht konsequent. Wir sehen eine augenscheinlich zufriedene, in sich selbst ruhende Martha, wissen gleichzeitig aber auch, dass diese Zufriedenheit einen doppelten Boden hat, dass sie einen tiefen Abgrund verbirgt. Auf einerseits unfassbare, andererseits aber auch wieder verständliche Weise verdrängt Martha den Selbstmord und die offensichtliche Lebenslüge ihres Mannes, verkapselt sie irgendwo tief in sich, und nach einer kurzen Phase der Verzweiflung, des Aufbegehrens, in der sie versucht, Klarheit und Gewissheit über Pauls Doppelleben zu erhalten, schaltet sie radikal um, spaltet das Trauma ab und wendet sich einem anderen Mann zu, von dem noch nicht mal klar ist, ob und was sie für ihn empfindet, den sie in ihr Leben aufnimmt, als gehöre er schon immer dorthin, den sie ganz für sich vereinnahmt, während sie sich zugleich vom Rest ihres alten Lebens inklusive ihrer Freundinnen verabschiedet. Gerade in der Mitte, in der Schilderung dieser Zeit, hat der Film seine faszinierendsten, erschreckendsten und dunkelsten Momente, in denen Martha immer scharf am Rande des Abgrundes balanciert. Jederzeit kann man damit rechnen, dass sie zusammenbricht, dass ihre vermeintliche Beherrschung, ihre forsche Coolness über ihr zusammenstürzt, dass Trauer und Schmerz sie überwältigen, doch bis auf einen Ausbruch in Gegenwart ihrer besten Freundin bleibt sie äußerlich stabil, obgleich man ihrem steinernen, blassen Gesicht, ihren schlafwandelnden Bewegungen deutlich ansieht, dass dies kein natürlicher Zustand ist und dass sie all ihre Kraft in den Erhalt dieser Fassade investieren muss. Doch sie bricht nicht zusammen, sie packt die bereits vollen Umzugskartons aus und richtet sich in der alten Wohnung wieder häuslich ein, sie wendet sich noch einmal an Pauls ehemalige Kommilitonen an der Kölner Uni, ob einer von ihnen ihn vielleicht doch kannte und ihr Auskunft geben kann, sie lässt Alex zunächst ziehen und dann wieder zu sich kommen, als er vorschlägt, nach Marseille zu gehen, und wenn man sie am Schluss so sieht, lächelnd im südlichen Licht, weiß man schon, dass dieses Glück ein in gewisser Hinsicht künstliches, mit viel Aufwand fabriziertes ist, das nur halten wird, wenn ihre innere Kapsel standhält oder sie eines Tages vielleicht mit Alex’ Hilfe das Erlebte doch noch aufarbeiten kann.
Dies ist ein höchst ungewöhnlicher, stellenweise enorm intensiver, spannender Film und trotz der leichten Abstriche, die ich beim Schluss machen würde, einer stärksten deutschen der Saison bisher. Sandra Hüller gestaltet das Psychogramm einer Frau, die sich in einer einzigen Extremsituation befindet und scheinbar nur auf ihre Überlebensinstinkte zurückgreift, mit grandioser Eindringlichkeit und Komplexität. Vom scheinbar ungetrübten Eheglück zu Beginn, über die schlimmen Augenblicke, als ihr die zunächst unglaubliche Nachricht mitgeteilt wird bis zu den verschiedenen Phasen der Verdrängung, die sie anschließend durchläuft, ist sie für uns zugleich extrem nahe und dennoch im Kern rätselhaft, ungreifbar. Wie sie gewaltsam vom alten Leben losgerissen wird und sich – Überlebensinstinkt eben – geistesgegenwärtig an das nächstbeste neue klammert, das ihr in Gestalt von Alex über den Weg läuft, wird von Sandra Hüller so eindrucksvoll dargestellt, dass man unmöglich gleichgültig zuschauen kann. Georg Friedrich ist ihr in der zweiten Hälfte ein hervorragender Partner, ständig ein wenig verunsichert von dieser merkwürdigen Frau die sich ihm so zielstrebig und zugleich so unberechenbar nähert, über die er so gut wie nichts weiß und die auch von ihm scheinbar nichts wissen will und die dennoch wie selbstverständlich davon ausgeht, dass sie nun ein Paar sind. Gleichzeitig, neugierig und fasziniert von ihrer schillernden und zerbrechlichen Persönlichkeit, verrät sein Blick aber stets eine gewisse Reserve, so als warte er schon auf böse Enthüllungen, mache sich auf alles gefasst. So ist mit sparsamen Mitteln, wenigen Personen und Schauplätzen und einer Geschichte, die sich in ihrer Konstellation nur langsam bewegt, die dadurch aber um so intensiver und dramatischer wirkt. Ein außerordentliches Regiedebut, großes Schauspielerkino, ein Film, der mir sicherlich lang im Gedächtnis bleiben wird. (19.9.)