Anna Karenina von Joe Wright. England/Frankreich, 2012. Keira Knightley, Jude Law, Aaron Taylor-Johnson, Alicia Wikander, Domnhall Gleeson, Matthew Macfadyen, Kelly MacDonald, Olivia Williams, Emily Watson

   Das ist mal wieder eine nette Überraschung: Statt eines zähen, gediegenen Ausstattungs- und Kostümschwanks wirkt Joe Wrights und Tom Stoppards soundsovielte Tolstojadaption – obgleich sie jene bewussten Elemente durchaus auch beinhaltet – frisch und modern, fast kühn zum Teil, weil sie eine zusätzliche Metaebene einbaut: Die Erzählung spielt sich vorwiegend ab in Theaterkulissen, deren Künstlichkeit ständig zur Schau gestellt wird ebenso wie die spielerischen Wechsel der Schauplätze, das Hinübergleiten der Akteure von einem Set zum nächsten. Gerade die erste Viertelstunde wirkt dadurch atemberaubend elegant und schwungvoll, eine brillant choreografierte und mit viel charmantem Witz ausgestattete Montage zur Darstellung des gesellschaftlichen Lebens zwischen St. Petersburg und Moskau in jenen fernen Zeiten. Auch später, als sich die Wucht des Dramas langsam und stetig zu entfalten beginnt, bestechen einzelne sehr unkonventionelle und gelungene Szenen, die Ort- und Zeitsprünge mit verblüffender Natürlichkeit und Chuzpe überbrücken. Ich für meinen Teil fand diese Idee wunderbar, habe sie nie als gestelzt oder störend empfunden, sondern als ein kongeniales Mittel, einen Klassiker neu zu sehen und zu zeigen. Das konventionellste an dem Film ist, wenn man so will, Keira Knightley, die sehr divenhaft (aber auch effektvoll, zugegeben) schmachtet, liebt und leidet und damit ohne Probleme auch in einer der früheren Fassungen Platz gehabt hätte. Auch Aaron Taylor-Johnson gibt seiner Rolle nicht gerade den letzten Kick, aber man erlebt es ja häufig, dass die Nebendarsteller prägnanter und interessanter sind als die Hauptfiguren.

   Der Inhalt selbst ist hinreichend bekannt - die parallel geführten Ehegeschichten aus den Häusern Karenina, Oblonski und Lewin. So wie sich die Beziehung der einen zum Unglück wendet, kommen sich die anderen nach vielen Entzweiungen und Abwegen wieder näher und die dritten finden erst einmal zueinander. Tolstoj stellt Spielarten der Liebe vor, geißelt Dünkel, Engstirnigkeit, Heuchelei und plädiert für mehr Offenheit und Freiheit. Gleichwohl werden auch Annas Selbstsucht und Eitelkeit und deren Wirkung und Folgen aufgezeigt. Im Zentrum aber der Spießrutenlauf einer Frau, die konsequent ihren Gefühlen folgt und sich nicht um die Etikette schert, um das, was sich „gehört“, was ja um so fragwürdiger wird, wenn man sich die Leute anschaut, die darüber entscheiden zu müssen glauben. Natürlich kann man heutzutage einen stärkeren Akzent auf die Geschlechterrollen und die befreiende Kraft der Erotik legen, was hier auch geschieht, ohne dass Wright zu platter Spekulation greifen müsste. Allein die virtuos geführte Kamera und die Intensität und Brillanz der Schauspieler sagen mehr als genug, und es gelingt dem Film perfekt, eine Balance zwischen der ganz unmittelbaren Wucht und Dringlichkeit des epischen Literaturklassikers und der reflexiven, verspielten Theaterhaftigkeit von Stoppards Version herzustellen. Es macht viel Spaß, den erstklassigen Darstellern zuzuschauen, man kann aber auch die prächtige Optik genießen und sich jederzeit der Substanz dieses großen Romans versichern, die hier nie zugunsten von oberflächlichen Schauwerten geopfert wurde.

 

   Kurz gesagt, eine gelungene, eigenwillige und streckenweise extrem spannende und unterhaltsame Literaturverfilmung, die Klassik und Moderne so überzeugend wie selten ineinander fließen lässt. Kino für Auge und Hirn, was will man mehr. (17.12.)