L’Exercice d’Etat (Der Aufsteiger) von Pierre Schoeller. Frankreich/ Belgien, 2012. Olivier Gourmet, Michel Blanc, Zabou Breitman, Arly Jover, Laurent Stocker, Didier Bezace, Sylvain Deblé, Jacques Boudet, Eric Naggar
Die Schwierigkeit, diesen Film in eine Genreschublade zu packen, macht gleich schon seine schillernde Faszination aus. Ist dies eine Politsatire? Oder eine Komödie? Oder gar ein politischer Thriller? Oder ein Drama? Von allem ein bisschen auf jeden Fall, weder nur das eine noch das andere, zweifelsfrei aber eine brillante, bissige Montage mit Szenen aus unserer staatspolitischen Gegenwart, die uns eigentlich das Blut in den Adern gefrieren lassen müsste. Dies sind also die Männer (denn meistens sind es ja doch Männer), die uns regieren, die dies angeblich in unserem Namen, in unserem Auftrag und mit unserer ausdrücklichen Billigung und Zustimmung tun. Die nimmermüde unterwegs sind zu unserem und der Gesellschaft Wohl, die selbstlos und uneitel überall nicht mehr und nicht weniger vertreten als die Interessen ihres Landes. Zuverlässige, integre Männer, die jederzeit zu ihrem Wort stehen, die fest an etwas glauben und sich entschlossen dafür einsetzen. Männer, die loyal und kollegial miteinander umgehen, die eine vorbildliche Kultur des Miteinander pflegen und die den Schneid haben, Irrtümer öffentlich einzuräumen und die Konsequenzen dafür zu tragen.
Ja, so hätten wir sie vielleicht gern, die gewählten Volksvertreter, aber natürlich sind sie nicht so, sie sind eigentlich fast in allem das genau Gegenteil zu dem oben beschriebenen Wunschdenken. Und eine große Handvoll davon wird in Pierre Schoellers Film vorgestellt, französische Politiker in diesem Falle, wobei aber jeder weiß, dass die hier dargestellten Verhältnisse auf sehr viele andere Staaten übertragbar sind. Im Zentrum sehen wir den Minister Saint-Jean und sein unentwegtes Ringen um kleine Punktsiege, die Sicherung und wenn möglich den Ausbau seiner Macht und einen möglichen Aufstieg in der Hackordnung im Elyséepalast. Mal ist er in einer medienträchtigen Mission unterwegs und betrauert effektvoll die Opfer einer Buskatastrophe, mal berät er sich mit seinem Stabschef oder seiner Öffentlichkeitsberaterin über die neuen Strategien und mal versucht er, sich in der Frage der Privatisierung der französischen Bahnhöfe zu positionieren. Selten sieht man ihn mal „privat“ – eigentlich ist er nie privat -, und am Schluss kommt ihm ein Horrorunfall, den er selbst erleidet, zu Hilfe und lässt ihn in der Gunst des launischen Premierministers steigen. Er wird mit neuen Kompetenzen, neuer Macht und einem neuen Stab ausgestattet, was heißen soll, dass sein langjähriger Weggefährte leider von Bord gegen muss, weil man „frisches Blut“ haben will.
Zu Beginn, in einer heftig erotischen Traumsequenz, wähnt man sich fast schon in einem Buñuel-Film (was ich natürlich ganz hinreißend gefunden hätte), danach aber ändert sich der Ton der Erzählung, die fortan eher nüchtern, fast diskret an M. Saint-Jeans Fersen heftet und ihn begleitet auf seinen rastlosen Unternehmungen zwischen Paris und Provinz, Ministerium, anderen öffentlichen Räumen und diversen Außenterminen, im Kontakt mit Ehefrau, Beratern, Kollegen und Konkurrenten, Medien, und nur sehr selten den Bürgerinnen und Bürgern. Es geht wohlgemerkt um Alltag, nicht um große Skandale, spektakuläre Entscheidungen oder wüste Machtspielchen. Es geht zwar irgendwie auch um all dies, doch eher im ganz kleinen Rahmen, jenem Rahmen, der das sprichwörtliche Tagesgeschäft in Politik und Wirtschaft ausmacht. Und hier liegt, sozusagen im thematischen und motivischen Zentrum des Films, der Hund begraben: Saint-Jean und all seine Mitspieler/Widersacher (sind oft beides in einer Person!) streben nicht nach ethischer oder politischer Integrität, nicht nach der Verwirklichung ihrer Ideale und Überzeugungen, sie fühlen sich weder ihren Wählern, noch ihrem Land verpflichtet, sondern einzig und allein: Sich selbst. Das einzige, was sie im tiefsten Innern wirklich interessiert und antreibt, ist das Streben nach Macht und Ruhm – möglicherweise noch Geld, doch selbst das spielt in diesem Film keine allzu große Rolle. Einer wie Saint-Jean ist ein reiner Instinktpolitiker, das heißt, wenn man ihn fragte, warum er’s tut, dann könnte er womöglich noch nicht mal Auskunft geben, zumal Selbstreflexion logischerweise nicht seine Sache ist. Er läuft stets auf Hochtouren, ist immer im Dienst, immer bereit, auf neue Herausforderungen und Situationen zu reagieren, und all das immer mit dem starren Blick auf die Macht. Privatisierung von Bahnhöfen: Nie im Leben, nicht mit mir, nur über meine Leiche! Im Brustton der Überzeugung positioniert er sich in dieser öffentlich heiß umstrittenen Debatte, nur um kurz darauf umzufallen und genau die entgegen gesetzte Meinung zu vertreten. Es kommt nur darauf an, mit welcher Meinung er besser fährt.
So entsteht ein nach außen dezent amüsiertes, manchmal auch bissiges und schwarzhumoriges Porträt einer Sekte, ihrer Rituale, ihrer Sprache, ihrer Gesetze. In die Satire mischt sich eine Prise Bitterkeit, ein Hauch menschlichen Dramas scheint im Hintergrund, und manchmal bleibt uns auch nur der Mund offen stehen. Mein hauptsächliches Gefühl war eher Frösteln, und wirklich könnte einem fast Angst und Bange werden bei der Erkenntnis, dass unsere Existenz, unsere Gegenwart und Zukunft in der Gewalt solcher Leute liegt, die mit Werten wie Verantwortungsbewusstsein, Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit rein gar nichts anfangen können. Dabei ist unser M. Saint-Jean alles andere als ein fieses, intrigantes Monster, ganz im Gegenteil, Olivier Gourmet gibt ihn hinreißend als bebrillten Pummel, der manchmal mit großen Jungenaugen in die Welt blickt, dessen Leutseligkeit und Arglosigkeit durchaus nicht gespielt sind, und der bestimmt davon überzeugt ist, ein guter Mensch zu sein.
Dies ist ein Film, der sich beim ersten Hinsehen noch gegen eine vollständige Erfassung sperrt. Er ist tückisch komplex, erfordert höchste Aufmerksamkeit und vor allem ein Interesse an den Mechanismen der Macht und am Spiel der verschiedenen Kräfte in einer „Demokratie“. Er ist nervös, intensiv, spannend, bodenlos und leider auch sehr wahr. Kurz: Ein Meisterstück seines Fachs. (28.11.)