Le gamin au vélo (Der Junge mit dem Fahrrad) von Jean-Pierre und Luc Dardenne. Belgien/Frankreich, 2011. Thomas Doret, Cécile de France, Jérémie Renier, Egon di Mateo, Fabrizio Rongione
Diesen Jungen wird man wohl nicht so schnell vergessen: Atemlos, fast getrieben, rastlos und unermüdlich verfolgt er sein Ziel, nämlich seinen Vater endlich wieder zu treffen, jenen Vater, der ihn in ein Erziehungsheim gab und sich seitdem nicht mehr gemeldet hat, der die Wohnung wechselte und offenbar seine Spuren zu verwischen versucht. Mit einer Mischung aus Beharrlichkeit, Trotz und Wut versucht Cyril immer wieder, aus dem Heim zu entkommen, sein altes Fahrrad wieder aufzutreiben und die neue Adresse des Vaters in Erfahrung zu bringen. Unterstützung findet er dabei bei der Friseurin Samantha, die den schwierigen Jungen lieb gewinnt, die sein geklautes Rad zurück kauft und sich schließlich bereit erklärt, ihn an den Wochenenden bei sich aufzunehmen, weil da sonst niemand ist. Und als er endlich am Ziel angelangt ist und seinem Vater gegenübersteht, folgt die bittere Ernüchterung: Der feige Scheißkerl hat nicht das geringste Interesse an ihm, will nur sein eigenes jämmerliches Leben wieder ordnen und kann sich nicht um ihn kümmern. Dies soll von nun an Samantha übernehmen. Cyrils Zorn tobt sich aus, indem er gegen Samantha aufbegehrt, draußen im Viertel die Bekanntschaft des windigen Gauners Wes macht und für ihn einen Ladenbesitzer überfällt. Alles geht schief, Cyril kommt mit einer Entschuldigung und einem blauen Auge davon, aber immerhin will er nun bei Samantha bleiben.
Dieser Schluss, der immerhin so was wie einen Ausblick gewährt, ist dringend notwendig, um uns Zuschauer nicht völlig am Boden zerstört zurückzulassen, ganz nach Art einiger Ken-Loach-Filme, aber auch so gibt’s reichlich Szenen zwischendurch, die mir schon gewaltig das Herz eingeschnürt haben (oder jedenfalls irgendwas an der Stelle...), weil der verzweifelte und letztlich vergebliche Kampf Cyrils um die Liebe seines Vaters so fürchterlich eindrucksvoll geschildert wird. Die fast manische Unbeirrbarkeit des Jungen, der sich von keinem Rückschlag, keinem Zaun, keinem irgendwie gearteten Hindernis halt macht, und der auch, als die bittere Wahrheit eigentlich offen zutage liegt, an seinem Traum festhält, so als würde sein Leben davon abhängen (und so ist es in gewisser Weise ja auch) und alles andere einfach verdrängt, ist so stark und bezwingend, wie ich es kaum je in einem Kinofilm gesehen habe. Dabei haben sich die Dardennes hier wenigstens ein bisschen von ihrer total kargen Sozialtristesse der früheren Filme gelöst und lassen zwischendurch auch mal die Sonne und den einen oder anderen helleren Ton zu, im Kern jedoch bleibt da dieses Drama, das auch durch einen vermeintlich etwas „gefälligeren“ Stil im Vergleich zu Werken wie „Das Kind“ oder „Lornas Schweigen“ kein bisschen von seiner enormen Intensität verliert. Sozialdrama und Psychostudie in einem, zu keiner Zeit dabei aufdringlich pädagogisch, psychologisierend oder gar melodramatisch, bleibt die Perspektive stets die des Jungen, auch wenn wir natürlich sehen, was er nicht sehen kann, nicht sehen will: Der Vater zieht bewusst um, hinterlässt keine Adresse, verscherbelt Cyrils geliebtes Fahrrad, um an Kohle zu kommen und hat zu keiner Zeit vor, den Sohn nach vielen Jahren endlich wieder zu sich zu holen. Wes, der kleine Dealer aus der Nachbarschaft, ist nicht an Cyrils Freundschaft interessiert, sondern will ihn nur für den geplanten Raubüberfall benutzen und lässt ihn sofort fallen, als es unvorhergesehene Probleme gibt. Samantha ist der einzige Mensch, der ihn wirklich um seiner selbst willen mag und der eine Menge Schwierigkeiten in Kauf nimmt (unter anderen schießt sie sogar ihren doofen Freund in den Wind, der den Jungen nicht neben sich dulden will). Gottseidank wird Cyril dies am Schluss erkennen, und indem er sich so entscheidet, stehen die Chancen gut, dass sein bislang eher chaotisches Leben in einigermaßen sichere Bahnen gerät. Dieser Gedanke, der über dem letzten Bild hängt, erleichtert mich schon etwas und zeigt, dass auch die Dardennes nicht immer nur die dunkelsten und hoffnungslosesten Geschichten erzählen wollen. Geht auch irgendwie nicht auf Dauer.
Auffällig neben dem gewohnt ruhigen, knappen und gänzlich unpathetischen Erzählton der Dardennes sind die großartigen Darsteller, vor allem der Junge ist fantastisch, aber auch Cécile de France (fast überraschend, dass die beiden Herren mit einer so prominenten Actrice arbeiten) ist beeindruckend, und Jérémie Renier darf nach „Das Kind“ einmal mehr den verantwortungslosen, zugleich überforderten und egozentrischen Vater spielen, und das tut er auch diesmal so gut, dass man ihm am liebsten an den Kragen gehen will. Insgesamt ist dies ein sehr, sehr eindrucksvoller Film, ein weitere in einer ohnehin schon eindrucksvollen Filmografie – aber Belgien als Reiseland werden die mir wohl nie nahe bringen! (14.2.)