Les neiges du Kilimandjaro (Der Schnee am Kilimandscharo) von Robert Guédiguian. Frankreich, 2011. Ariane Ascaride, Jean-Pierre Darroussin, Gérard Meylan, Maryline Canto, Grégoire Leprince-Ringuet, Anaïs Demoustier, Adrien Jolivet, Robinson Stévenin, Karole Rocher, Julie-Marie Parmentier
Klar kann man motzen über kitschiges Gutmenschentum oder auch naive linke Sozialschnulze à la Ken Loach, und meinetwegen mag das auch ganz richtig sein – aber im Ernst: Wem bei diesem Film nicht das Herz aufgeht, der hat gar keins! Wenn selbst ein so grober Klotz wie ich hundert Minuten lang zutiefst gerührt im Kinosessel hockt, dann ist das ebenso selten wie besonders. Und gern schließe ich mich all den kühlköpfigen und sachlichen Kritikern ein andermal wieder an, für diesmal aber gebe ich gern zu, dass ich mich mit Freunde habe hinreißen lassen von dieser wunderschönen sozialromantischen Fantasie, die vielleicht keinem Abgleich mit der kalten Wirklichkeit standhält, die andererseits aber auch lang nicht so hohl und doof ist, um uns weismachen zu wollen, dass die Welt ein einziges sozialistisches Wolkenkuckucksheim sei.
Denn Haken und Ösen gibt’s mehr als genug im Leben von Marie-Claire und Michel, ein liebevolles Ehepaar, das mitsamt Kindern und Enkeln in Marseille lebt, sie als Haushaltshilfe, er als gewerkschaftlich stark engagierter Arbeiter im Hafen. Der erste Tiefschlag nennt sich Globalisierung und führt mal wieder dazu, dass zahlreiche Leute ihren Job verlieren. Michel lost die Namen aus, wirft auch seinen eigenen in den Topf, obwohl er Protektion durch die Gewerkschaft genießt, und prompt landet er selbst auf der Straße. Der zweite Tiefschlag ist viel unvermuteter und schlimmer – die beiden werden mitsamt Schwager und Schwägerin Opfer eines Raubüberfalls. Ihnen wird alles geraubt, was sie anlässlich ihres dreißigsten Hochzeitstags von allen Verwandten und Freunden geschenkt bekommen hatten, und zurück bleiben Verletzungen, innere wie äußere. Als Michel erkennt, dass einer der Täter ein junger, ebenfalls entlassener Ex-Kollege von ihm ist, reagiert er verwirrt und schockiert, liefert den Knaben zunächst der Polizei aus, doch versucht dann plötzlich sehr zum Unverständnis seiner Umwelt, das ganze rückgängig zu machen, indem er die Anzeige zurückzieht und dann, als das Verfahren dennoch seinen Lauf nimmt, wenigstens den beiden kleinen Brüdern hilft. Parallel dazu und ohne sein Wissen unternimmt Marie-Claire ganz ähnliche Anstrengungen, und so treffen sie sich eines Tages und beschließen, die Jungs solange bei sich aufzunehmen, bis der Bruder aus dem Knast freikommt.
Meinetwegen also ein Märchen, okay, aber ein Film mit soviel Herz und Gefühl, dass ich mich weder entziehen konnte noch wollte. Guédiguian erklärt Marseille und seinen Einwohnern einmal mehr seine Liebe, so wie er es sein gut dreißig Jahren in zahlreichen Filmen schon getan hat – von denen man hierzulande natürlich die allermeisten gar nicht kennt. Seine Sympathie für die sogenannten „kleinen Leute“ ist sprichwörtlich und wird ganz direkt und ungeniert zur Schau getragen, in diesem Fall aber auch total natürlich und ohne melodramatische Töne, so wie beispielsweise Ken Loach das auch kann. In seiner Hauptfigur Michel bündelt er offenbar einige seiner Ideale – ein aufrechter Linker, ein engagierter Gewerkschaftler, der sich unermüdlich und selbstlos für die Interessen er Kollegen eingesetzt hat, ein Mann, der nicht auf Rache sinnt, der stattdessen sogar Gnade will, weil er hinter dem Verbrechen die Not des Verbrechers sieht, der früher einer von ihnen war. Es gibt einen Ehrenkodex, um den nicht viel Wind gemacht wird, der aber nicht verhandelbar ist, und obwohl der Schwager und er sich vorübergehend mächtig in die Haare kriegen, führt sie eben diese unausgesprochene Einigkeit wieder zusammen, während er und Marie-Claire noch viel enger miteinander verbunden sind und ein Verständnis von Menschlichkeit teilen, das sie ganz automatisch zu den beiden Jungs führt, die ebenfalls Opfer der Verhältnisse geworden sind. Guédiguian flicht hier in seine Milieudarstellung durchaus schroffe und realitätsnahe Motive ein, die ihn meiner Meinung nach von dem Verdacht freisprechen, er sei nur ein törichter linker Romantiker ohne Sinn für die Realität. Ich glaube, dass er die Realität im Gegenteil sehr klar sieht und sie jederzeit in seine Filme einbezieht, das er sich lediglich weigert, von seinen Idealen abzulassen, nicht nur den politischen, sondern vor allem den menschlichen, und so präsentiert er Michel und Marie-Claire als zwei Idealisten – er mit ein wenig mehr dogmatischem Unterbau, sie ganz natürlich aus ihrem Gefühl heraus – und formuliert den Wunsch, dass sich diese Ideale ein einziges Mal ausleben lassen. Er wollte ihm dies verübeln...
Neben einer Geschichte, die spannende, zärtliche, traurige, entspannte und auch komische Augenblicke integriert und vereint und einem vorzüglichen Ensemble sehr sympathischer Typen hat der Film aber noch eine ganz große Attraktion und das ist natürlich der fantastische Süden. Die Farben, das Licht, die Luft, der Wind, das Meer, die Dächer und Straßen der Stadt, die Geräusche und Gerüche, all dies ist in fast jedem Bild gegenwärtig, ist zu sehen zu spüren in seltener Intensität und Unmittelbarkeit, und wenn man der ganzen Fabel auch sonst nichts abgewinnen kann, so wären da zumindest die mediterranen Impressionen, die der reine Genuss sind. Ich habe den Film auch sonst genossen, fand ihn wunderschön und wünsche mir, dass endlich mal noch mehr Filme dieses einzigartigen Regisseurs bei uns zu sehen sind - bis jetzt kannte ich nur „Marius und Jeannette“, und das ist auch schon wieder satte vierzehn Jahre her....! (19.3.)