Die Summe meiner einzelnen Teile von Hans Weingartner. BRD, 2011. Peter Schneider, Timur Massold, Heinrike von Kuick, Eleonore Weisgerber, Julia Jentsch, Hans Leupold, Thomas Dannemann

   Ein Lebensentwurf geht zu Bruch: Martin ist ein offenbar hoch begabter Mathematiker und steht beruflich wie privat vor einer sonnigen Zukunft. Dann schlägt die Psyche zu, der Aufenthalt in der stationären Einrichtung verbaut ihm den Weg zurück, man hat Zweifel an seiner Belastbarkeit, man trennt sich von ihm und angelt sich schnell einen neuen Freund, man pfändet seine Wohnung, und plötzlich ist der Mann obdachlos und strauchelt durch die Hauptstadt. Er trifft einen ukrainischen Jungen, der das Leben auf der Straße schon gelernt hat, und gemeinsam schlagen sie sich durch, schlagen sich in die nahen Wälder und bauen sich dort eine Hütte auf, eine neue Existenz. Von Flaschenpfand kaufen sie sich die notwendigen Lebensmittel, und alles ist gut, bis die Behörden eingreifen, die Hütte abreißen, Martin fangen und zurück in die Anstalt bringen wollen. Er flieht noch mal, diesmal mit Hilfe eines Mädchens, das er kennen gelernt hat und das seinen Traum vom Ausstieg teilt. Doch auch diese Flucht misslingt - der Bus auf dem Weg nach Portugal wird aufgehalten und Martin eingesackt.

   Weingartners sperrige Ballade kreist zum einen um die provozierende Idee, inmitten unserer hochheiligen Zivilisation tatsächlich auszusteigen, zurück in die Wälder zu gehen und dort ein Leben als friedlicher, selbstbestimmter Eremit zu pflegen, der niemandem schadet und eigentlich auch niemanden stört. Irgendwie klar, das so was bei uns nicht geht, nur gibt es eigentlich gar keinen zwingenden Grund dafür, die an Martins Beispiel gezeigt wird, denn der stört keinen, raubt keinen aus oder belästigt keinen. Er sammelt Flaschen aus Mülleimern und setzt das Pfand anschließend um, ansonsten hat er mit keinem was zu tun und keiner mit ihm. Weingartner findet starke, beklemmende Bilder für Martins blitzschnellen Absturz in die Obdachlosigkeit          , sein Scheitern bei dem Versuch, an den alten Arbeitsplatz zurückzukehren, die demütigende Szene bei der Ex, wo er noch seine alten Sachen abholen und dabei die gute Laune seines Nachfolgers ertragen muss, das zunehmende Versumpfen in alte Muster – Alkohol, Tabletten, Wahnvorstellungen. Schritt für Schritt führt ihn weg von der sogenannten etablierten Gesellschaft, und die Begegnung mit Viktor ist der entscheidende Katalysator, gibt ihm Kraft, macht ihm Mut, auch die Begegnung mit dem brutalen Schlägervater auszuhalten, an dessen Misshandlungen er sich in wiederkehrenden Alpträumen erinnert. Erst ganz spät werden wir durch Martins Psychologin auf den Gedanken gebracht, dass Viktor vielleicht gar nicht wirklich existiert, sondern lediglich Martins Projektion des verlorenen inneren Kindes ist, und je mehr wir vergangene Szenen Revue passieren lassen, umso plausibler erscheint uns dieser zugleich bestürzende und auch faszinierende Gedanke. Viktor taucht tatsächlich in einigen Szenen ganz unvermittelt zur Seite ab, und mit Ausnahme Martins nimmt sonst niemand in seinem Umfeld Bezug auf ihn, registriert ihn überhaupt. Erinnerungen wie die, in der Viktor seine an einer Überdosis gestorbene Mutter auffindet, erklären sich in der Rückschau als Bestandteile aus Martins Biografie, so wie der kleine Junge, der zum Opfer der väterlichen Gewalt wird, Viktor zunehmend ähnelt. Martins Ringen um die innere Balance wird entscheidend davon beeinflusst, ob er diesem inneren Kind nahe ist, oder ob er es aus dem Blick verliert. Ob das nun Vulgärpsychologie ist oder nicht, es wird in diesem Film außerordentlich eindrucksvoll und eindringlich umgesetzt. Es ist schon toll, wie dieser Gedanke (dass Viktor eben keine real existierende Person ist) tiefer und tiefer in unsere Wahrnehmung einsickert, bis es schließlich im Bus nach Portugal zur größten Verdichtung kommt, als Martin erst mit Viktor, dann mit dem Mädchen Lena unterwegs ist und Viktor einfach verschwindet, weil ihre Gegenwart ihn scheinbar überflüssig macht. Als Zuschauer ist man Martin und seiner Welt mittlerweile so nahe, dass man zwischenzeitlich ganz vergisst, wie wenig kompatibel diese Welt mit der sogenannten „realen“ ist und wie wenig überlebenstauglich Martin im Grunde ist.

 

   Dies ist mal wieder ein Film, der sich traut, abseits vom Mainstream zu operieren, der sicherlich nicht frei von Klischees ist, der aber auf jeden Fall Ideen hat, der uns einen ganz eigenen Blick auf die „Wirklichkeit“ anbietet und der vor allem eine sehr eindrucksvolle Psychostudie mit einem glänzenden Hauptdarsteller ist. Nach „Das weiße Rauschen“ und „Die wilden Jahre sind vorbei“ ist Weingartner hier seinem Hang zu Außenseitern treu geblieben und knüpft nahtlos an diese beiden ebenfalls sehr starken und eigenwilligen Filme an. (9.2.)