Faust von Alexander Sokurow. Russland, 2011. Johannes Zeiler, Anton Adasinsky, Isolda Dychauk, Georg Friedrich, Hanna Schygulla, Antje Lewald, Florian Brückner, Maxim Mehmet
Weil ich ein schlechter Deutscher bin (das gesteh ich gern), bin ich mit unserm literarischen Nationalheiligtum nur flüchtig vertraut und daran auch nicht übermäßig interessiert. Ich kenne den Murnaufilm mit Emil Jannings und den Gründgensfilm von 1960 oder so, ohne dadurch zu dem Stoff irgendeine nähere Beziehung bekommen zu haben. Auch Sokurows Version wird daran wenig ändern, doch bietet der immerhin eine ziemlich originelle und sicherlich recht ungewöhnliche und schräge Lesart, die sich von Goethes Vorlage entfernt, die Essenz des Mythos’ aber im Blick behält.
Wir sehen den ebenso emsig wie verzweifelt forschenden und wühlenden Gelehrten in einer engen, verwinkelten, gleichsam taumelnden und strauchelnden Welt. Die Menschen, die die schlammigen Straßen und Plätze des kleinen Fleckens bewohnen, scheinen allesamt dem Delirium entgegen zu stolpern, sie sind orientierungslos, halb irre. Faust selbst sucht nach der Seele des Menschen, doch so gründlich er die Kadaver der Toten ausweidet und zerlegt, er kann sie nicht finden. Er sucht ebenso nach Sinn und Ziel des Lebens, will sich nicht mit Stillstand, Mittelmäßigkeit und Tatenlosigkeit zufrieden geben und ist so leichte Beute für den missgestalteten Wucherer, einen raffinierten Menschenkenner und Intriganten, der den grüblerischen, egozentrischen, manischen Professor in einen Handel lockt: Fausts Seele gegen eine Nacht mit der jungen Margarethe, einem blonden Engel, den Faust im Waschhaus erblickt und dem er sogleich verfällt. Die Nacht geht tatsächlich über die Bühne, doch die Häscher warten schon, und am Ende finden sich Faust und sein Verführer verloren in vulkanischer Wildnis wieder. Faust will seinen Teil des Deals offenbar nicht leisten, doch sein Weg führt ihn mitten in die Wildnis, ins Nichts.
Ein Spiel mit Motiven, Zitaten und Bildern. Mal blitzt Goethes Originalsprache auf, dann wieder verfällt die Dialog in einen satirisch überzeichneten Singsang aus vage süddeutschem Dialekt eher primitiver, ländlicher Prägung. Wir sehen die Menschheit am Rande des Abgrunds, dumpf, abergläubisch, einfältig und roh. Die betörende Jugend und Reinheit Gretchens wird alsbald geschändet sein, das ist klar, und Rattenfänger wie der Wucherer (hinter dem sich natürlich Mephisto verbirgt) haben immer ein leichtes Spiel, die schlichte Meute hinter sich zu bringen. So hasten er und Faust unablässig diskutierend und philosophierend durch die desolate Gegend, das ganze wirkt über weite Strecken extrem planlos und gehetzt, nur wenn man die Geduld aufbringt, den oft nicht ganz leicht verständlichen Dialogen genau zu folgen, bekommt man eine Idee von Sokurows Absichten. Er zeigt den vermeintlich aufgeklärten „geistigen“ Menschen in seinem rücksichtslosen Forscherdrang als genau so beeinflussbar und verführbar wie den vermeintlich „einfachen“ Menschen, gleichzeitig grenzt er sich deutlich von jeglichem Übermenschen-Konzept ab, und obwohl der Film meiner Wahrnehmung nach keine expliziten politischen Anspielungen enthält, lässt er doch zahlreiche Assoziationen und Übertragungen zu. Sein Narrenspiel zwischen Mittelalter und Moderne wird im Kleinformat in abwechselnd bukolisch schönen und fast psychedelisch verzerrten Bildern wieder gegeben, in deutscher Sprache und weitgehend von deutschsprachigen Darstellern interpretiert. Es gibt jede Menge Humor, reichlich bizarre Figuren, groteske Überzeichnungen, satirische Karikaturen, und man sieht schon ganz deutlich, mit wie viel grimmigem Spott Sokurow dem Ringen um die menschliche Seele, um die Suche nach Gut und Böse zuleibe rückt. Dass daraus ein nicht gerade leicht konsumierbares, dazu noch überlanges Kinostück entstanden ist, mag man einerseits als konsequent, andererseits auch berechtigterweise als anstrengend empfinden, immerhin aber, und das muss man auch mal feststellen, bewegt sich dieser sehr eigenwillige Film weit außerhalb des Mainstream und folgt rigoros den Absichten seines Regisseurs, was heutzutage selbst im Programmkinomilieu längst keine Selbstverständlichkeit mehr ist. (19.1.)