Holy Motors von Leos Carax. Frankreich, 2011. Denis Lavant, Edith Scob, Kylie Minogue, Eva Mendes, Michel Piccoli
Am Ende sehen wir eine große Halle als Fuhrpark für Stretchlimousinen und wir hören, wie sich die Autos nach verrichtetem Tagwerk austauschen über ihre Arbeit, ihre Zukunft und das, was von den Menschen wohl noch zu erwarten ist. Für sich genommen natürlich eine total schräge Szene, nach den zwei Stunden aber, die dann bereits hinter uns liegen, nehmen wir das sehr gelassen und als ganz normal, denn für das, was uns Carax da auftischt, ist „schräg“ noch eine ziemlich gelinde Bezeichnung.
Ein Versuch, diesen Film irgendwie wiederzugeben, könnte so aussehen: Am Morgen steigt Monsieur Oscar ins Auto und fragt seine Fahrerin Céline, wie viel Termine heute anstehen. Und dann wir einer nach dem anderen abgehakt, und jedes Mal erscheint Oscar in einer neuen Identität, bereitet sich im Auto wie in einer Garderobe auf eine neue Rolle vor. Mal ist er eine Bettlerin, mal ein grässlicher Wüstling, mal ein toll illuminierter Tänzer, mal ein sterbender alter Mann, mal ein vorwurfsvoller Vater, zwischendurch spielt eine Akkordeoncombo auf, dann kommt es zu einigen blutigen Kämpfen und zuletzt zu einer melancholischen Begegnung mit einer ehemaligen Geliebten und Kollegin, denn es sind viele wie er unterwegs, durchqueren Stadt und Land von einem Auftrag zum nächsten. Am Schluss wird ein erschöpfter M. Oscar zuhause abgesetzt, doch nun wohnt er in einem gesichtslosen Reihenhaus und seine Familie besteht aus Schimpansen. Alles klar?
Ob hinter dem ganzen ein tieferer Sinn steckt, ob Carax ein alles organisierendes und dirigierendes Mastermind im Sinn hat (ein Kurzauftritt Michel Piccolis könnte in die Richtung weisen), ob die Akteure Sinnbild sind für die Menschheit allgemein, oder ob Carax lediglich eine Hommage an Paris und das Kino beabsichtigte – alles ist denkbar, doch habe ich schon während des Zuschauens gemerkt, dass mich die frage nach dem Warum und Wozu gar nicht besonders interessiert hat. Dies ist ein Film, den man weniger verstehen als vielmehr auf sich wirken lassen muss – ich jedenfalls habe es so gehalten und bin ganz gut damit gefahren. Natürlich ist es mir grundsätzlich schon lieber, wenn ich einen Sinn und eine Absicht des Filmemacher erahnen kann, diesmal aber konnte ich mich gut darauf einlassen, den Bilderrausch und die oft aberwitzigen Situation einfach anzuschauen und als solche hinzunehmen. Natürlich geht Carax in die vollen, lässt zwischen Horror und Erotik kaum etwas aus, bevorzugt dabei sichtlich die düsteren Settings, die Katakomben der Stadt etwa, einen Friedhof, große, leere Hallen, nächtliche Straßen und dergleichen, er schafft sein eigenes dunkles Bild von Romantik und bevölkert es mit einer skurrilen Spielschar aus Gauklern und Narren, irgendeinem Paralleluniversum entsprungen. Mittendrin tobt sich Denis Lavant aus wie noch nie, legt eine furiose und manchmal auch etwas anstrengende Soloperformance hin, die aber allein durch ihre Physis und ihre Intensität fesselt und fasziniert. Wie sein Regisseur ist auch er jederzeit und unerschrocken bereit, alles zu geben, alle Grenzen hinterwegs zu lassen. Kein anderer Darsteller hätte diese vielen Rollen so ausfüllen können wie er, und es liegt schon die Vermutung nahe, Carax habe sie ihm regelrecht auf den Leib geschrieben (selten trifft diese Formulierung den Kern so wie diesmal). Neben ihm allerdings haben die fabelhafte Edith Scob, die überraschend eindrucksvolle Kylie Minogue (jaja, singen darf sie auch...) und Eva Mendes als schweigend schöne Schleiergöttin starke Auftritte, die Lavants allzu dominante Präsenz gelegentlich (und wie ich finde angenehm) abfedern. Und Edith Scobs abschließende Hommage an ihren Auftritt in Georges Franjus legendärem „Augen ohne Gesicht“ vor über fünfzig Jahren erzeugt schon ein bisschen Gänsehaut.
Mein letzter Carax-Film waren die Liebenden von Pont-Neuf, das ist fast zwanzig Jahre her, und in der Zwischenzeit hat ja wohl nur „Lola X“ stattgefunden, ein umstrittenes und wirres Literaturspektakel, das nicht gesehen zu haben mir bisher noch nicht leid getan hat. Mit „Holy Motors“ hat sich auf jeden Fall ein eigensinniger, einzigartiger, sperriger Kinopoet der radikalen Sorte nach langer Zeit mal wieder zu Wort gemeldet, der sowieso kein Kino fürs große Publikum machen will und auch nicht macht. Mir hat der Film gefallen, er wirkt sehr stark durch seine Bilder und die Darsteller, und auch wenn man längst nicht alles entziffert und versteht, ist es für mich dennoch ein Film, den ich nicht so schnell vergessen werde. Und das kann gerade in diesem Jahr bisher von nicht sehr vielen Filmen gesagt werden... (12.9.)