Dans la maison (In ihrem Haus) von François Ozon. Frankreich, 2012. Fabrice Luchini, aus)
Ernst Umhauer, Kristin Scott Thomas, Emmanuelle Seigner, Denis Ménochet, Bastien Ughetto
Irgendwann mitten im Film sehen wir beiläufig und dennoch klar erkennbar ein Kinoplakat von „Match Point“, und da dachte ich gleich, jau, da hat sich der Ozon genau die richtige Hommage rausgepickt. Dies ist so was wie Woody Allen meets Patricia Highsmith meets Dominik Moll – so ungefähr jedenfalls. Nicht weiter überraschend insofern, als sich Ozon praktisch mit jedem neuen Film auch gleich neu zu erfinden gewillt ist, und in höchstem Maße angenehm insofern, als ihm dies mal wieder ganz wunderbar gelungen ist, besser auf jeden Fall als in so manch anderem seiner eindrucksvoll vielseitigen und vielschichtigen Werke.
Dies ist eine Art Psychodrama, das sich auf ganz leisen Sohlen heranschleicht, dessen erste halbe Stunde durchaus auch ein bisschen Sitzfleisch erfordert, das dann aber urplötzlich ganz präsent ist und eine fast unheimliche Wirkung entfaltet. Und zwar nicht durch das, was konkret geschieht, sondern vielmehr durch das, was geschehen könnte, was wir in unserer zunehmend angespannten Fantasie hinzudichten und uns ausmalen. Ein fast perfektes Beispiel für die vollkommene Manipulation des Publikums, für das Spiel mit Erwartungen, Gewohnheiten, Wünschen, und wenn am Schluss eigentlich gar nicht viel passiert ist, heißt das nicht, dass man nicht ordentlich durchgeschüttelt wurde. Hitchcock jedenfalls wäre stolz!
Wie fast immer entwickelt sich die Geschichte aus einer völlig harmlosen, alltäglichen Situation: Der Lehrer Germain bemüht sich, das offensichtliche Schreibtalent eines Schülers zu fördern, ermutigt ihn, einen begonnenen Text weiter zu spinnen, sich weiter vor zu wagen, sich selbst auszuprobieren. Der Schüler Claude beschreibt seine Erlebnisse im Elternhaus seines Freundes Rapha, vor allem seine starke Zuneigung zu dessen Mutter, und auch als die Sache leicht obsessive und zunehmend beunruhigende Züge annimmt, erkennt Germain die Zeichen nicht, hört nicht auf die Warnungen seiner Frau, sondern lässt sich von seiner eigenen Faszination für den rätselhaften, eigenbrötlerischen jungen Mann mitziehen. Längst hat Claude die Regie in dem Spiel übernommen, lenkt das Interesse seines Lehrers, hat seinen etwas naiven Freund fest im Griff und macht sich die Einsamkeit und latente Unzufriedenheit der Mutter zunutze, um sich ihr zu nähern. Bevor jedoch wirklich etwas passiert, erfährt Claude, dass die Familie wegziehen wird. Das macht ihm nicht viel aus, denn er wird bald ein neues Objekt seiner perfiden Fantasie finden, und er kann sich Germains Gesellschaft halbwegs sicher sein, denn der hat mittlerweile seinen Job und seine Frau verloren und ist drauf und dran, auch ein Voyeur zu werden, der selbst kein Leben hat, sondern nur am Leben anderer partizipiert, indem er in ihre Wohnungen hineinblickt, so wie Claude einst in die Wohnung von Raphas Familie hineingeschaut hat, voller Sehnsucht, einmal in das Haus hineinzukommen.
Wie gesagt, die Geschichte bietet an vielen Stellen verschiedene Abzweigungen und Möglichkeiten an, könnte melodramatische Züge annehmen oder sich einem bösen Thriller werden. Ozon tut aber so, als könne er kein Wässerchen trüben, er lässt die Erzählung weiter vor sich hinzockeln, detailreich, wortreich, sehr bedächtig, um dann in schön bemessenen Abständen die eine oder andere Untiefe einzubauen und uns daran zu erinnern: Seht her, ich könnte auch anders! Und wir machen natürlich schön mit, denn wir warten ja nur aus die Eskalation, auf die Katastrophe, auf Mord und Gewalt, was auch immer – aber nichts tut sich, jedenfalls nichts, was an unsere gröberen Instinkte appelliert. Dafür lockt uns Ozon auf ganz fiese Weise immer tiefer in eine Grauzone, die es uns zuletzt fast unmöglich macht, zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden. Sind wir in Claudes Aufsatz oder sind wir in der wirklichen Welt – diese Frage gewinnt zunehmend an Relevanz, zumal auch M. Germain am Schluss nicht mehr ganz sicher ist, und diesen Realitätsverlust muss er teuer bezahlen. Das anfangs amüsante, nachsichtige und lockere Geplänkel der beiden Eheleute wird verbissener, je mehr sich Germain in Claudes Intrige verliert und je weiter er sich von seiner Frau entfernt, die auch gerade ihre Sorgen hat und auch mal jemanden zum Zuhören und unterstützen gebrauchen könnte. Und während er die möglichen Gefahren immer wieder herunterspielt und ignoriert, ist sie hellwach und sieht schnell, mit was für einem miesen Früchtchen sich ihr Gatte da eingelassen hat. Der aber, selbst ein gescheiterter, enttäuschter Schriftsteller, ist fasziniert von Claudes eleganter, fließender und zugleich maßlos dreister Sprache und dem suggestiven Aufbau der Geschichte, die genau wie der Film eine große Menge an Möglichkeit eröffnet.
Dieser Film erfordert wie gesagt Geduld und die Bereitschaft, auf die gewohnten Mechanismen der Eskalation zu verzichten – darin ähnelt er Molls Filmen frappierend. Luchini ist perfekt als der gewohnt arglos daherschwätzende Bildungsbürger, einfältig aber liebenswert und harmlos, und seinem Gegenüber Ernst Umhauer gelingt es ebenso perfekt, die dunklen Abgründe hinter dem unscheinbaren Milchgesicht des Schülers Claude erahnbar zu machen. Alles Andeutung, alles Suggestion, aber mit größtmöglicher Könnerschaft zelebriert und damit ein böses, abgründiges Vergnügen. Gegen Ende dieses Jahres holen die bis dahin zu oft zu seichten Franzosen also doch noch mächtig auf! (3.12.)