Monsieur Lazhar von Philippe Falardeau. Kanada, 2011. Fellag, Sophie Nélisse, Emilien Néron, Danielle Proulx, Brigitte Poupart, Evelyne de la Chenelière, Jules Philip
Im Klassenzimmer einer Schule in Montreal erhängt sich eine Lehrerin. Der Selbstmord bleibt unbegreiflich, die Kinder reagieren geschockt auf den Tod der sehr beliebten Frau. Als Ersatz bietet sich unerwartet M. Bashir Lazhar an, der sich als Lehrer aus Algerien vorstellt. In der Not willigt die Schulleiterin ein. Lazhars Anfänge sind mühsam, doch nach und nach gewinnt er Vertrauen und Zuneigung der Klasse, versucht allerdings mehrmals durchzusetzen, dass die Kinder über das schlimme Erlebnis und ihre Alpträume offen sprechen können. Er weiß, wovon er redet, denn er selbst hat in Algiers Furchtbares erlebt , und er ist auch kein Lehrer, sondern nur der Ehemann einer Lehrerin, die mit ihren kritischen Büchern beim rigiden System aneckte, solange, bis die Familie mit Ausnahme Bashirs bei einem Brandanschlag ums Leben kam. Bashir schafft es zwar, in Kanada als politischer Flüchtling anerkannt zu werden, doch seine Identität fliegt dennoch auf, weshalb er und wohl auch seine Chefin ihre Posten werden räumen müssen.
In knapp über neunzig Minuten bringt dieser sehr beeindruckende Film das Kunststück fertig, ganz viele komplexe Themen aufzugreifen, ohne sich daran zu verschlucken, ohne überlastet, pathetisch oder platt zu wirken – im Gegenteil: Sehr ruhig, sehr intensiv, im Grundsatz sehr ernst, aber auch mit wunderbar humorvollen, zärtlichen, warmen Momenten ausgestattet gelingt es Drehbuch und Regie, sowohl Monsieur Lazhar in seiner als auch den Kindern in ihrer Situation nahe zu sein, ihre jeweiligen Traumata zu erfassen, ohne sie dabei erschöpfend zu bearbeiten oder gar zu therapieren. Lazhars Erinnerung an die unter schrecklichen Umständen zu Tode gekommene Familie kennt keinen wirklichen Trost, zumal nicht im Exil, in dem er sich erst zurechtfinden muss. Andererseits werden auch die Kinder nicht so schnell über den schockierenden Selbstmord ihrer geliebten Lehrerin hinweg kommen, das kann die eigens darauf angesetzte Psychologin noch so begeistert von raschen Fortschritten berichten, da können Eltern und Lehrer noch so tapfer zur vermeintlichen Tagesordnung übergehen. Lazhar weiß, was er sich selbst versagt: Trauer muss besprochen werden, Alpträume müssen erzählt werden, das Unfassbare, Unbegreifliche muss verbalisiert werden, nur so kann man sich annähern, kann begreifen. Hier ist er den Kindern gegenüber natürlich im Vorteil, und so kann er sich ganz zurücknehmen und versuchen, sich auf sie und ihre Trauer einzulassen. Dabei eckt er vor allem dann an, wenn er einsehen muss, dass er einer anderen, in vieler Hinsicht konservativeren Kultur entstammt und dass viele seiner Lehrmethoden – wo immer er sie sich auch angeeignet haben mag – weitgehend passé sind und dementsprechend von den Kindern genervt oder empört quittiert werden. Dem Annäherungsversuch einer netten Kollegin begegnet er mit netter Hilflosigkeit, er hält Balzac und Molière für angemessene Lektüre, und den Eltern seiner Schüler begegnet er sicherlich nicht mit der allgemein erwarteten Unterwürfigkeit (die Klassenverhältnisse sind ihm halt auch nicht so geläufig). Hinter all seiner sympathischen Zurückhaltung und Unsicherheit steht seine eigene Geschichte, die wir in groben Zügen erfahren und die uns verstehen lässt, das er den Job in Kanadas dringend braucht, um irgendwie Fuß zu fassen, denn an eine Rückkehr nach Algerien ist nicht zu denken. Falardeau nähert sich sowohl ihm als auch den Kindern nur bis zu einem gewissen Punkt, er unternimmt keinen Versuch, die letzten Winkel ihrer Seelen auszuloten, allem und jedem auf den Grund zu gehen, was ich als sehr angenehm empfand und was meiner Ansicht nach dazu beiträgt, dass der Film bei aller Substanz nicht übermäßig schwer ist. Die stille, melancholische Präsenz des großartigen Mohamed Fellag trägt den Film ebenso wie die vitale, dynamische, sehr lebendige Vielgestaltigkeit der Kinder, für die die Regie ein besonderes Händchen hat, denn sie wirken zu jeder Zeit extrem natürlich, kein bisschen gezwungen oder gestelzt, wie ich es häufig in deutschen Filmen sehe. Auch die wirklich ernsten, komplexen Augenblicke kommen direkt und ungekünstelt rüber, wichtig ist hier immer, wie die Menschen miteinander umgehen, wie sie kommunizieren, was sie sich zu sagen trauen und was nicht. Monsieur Lazhar trägt schweres Gepäck mit sich herum, doch indem er es schafft, sich ganz auf die Situation der Kinder einzulassen, kann er selbst vielleicht auch ein wenig Trauerarbeit leisten, ohne die er auf Dauer nicht weiterleben könnte.
Dies sind neunzig wunderbar gefühlvolle, eindringliche Filmminuten, ganz einfach und klar an der Oberfläche, kompliziert und belastet darunter, dennoch verlässt man das Kino nicht schweren Gemüts, sondern trotz des nicht gerade positiven Ausgangs im besten Sinne „beseelt“. Komisches Wort irgendwie, doch scheint es mir bei diesem Film gerade passend. (12.4.)