Shame von Steve McQueen. England/USA, 2011. Michael Fassbender, Carey Mulligan, James Badge Dale, Nicole Beharie, Hannah Ware, Amy Hargreaves

   Eine moderne Symphonie der Großstadt – New York im 21. Jahrhundert: Elegische Minimalmusik, lang anhaltende, dunkle Bilder, sehr viel Kunstlicht in Bars, Discos, Großraumbüros, U-Bahnen und Bahnstationen, sehr viele Menschen und kaum Kontakt. Brandon ist ein erfolgreicher Büromensch, seine eigentlichen Interessen aber liegen woanders: Er konsumiert Sex mit rasender Besessenheit und in jeder Form, zumeist erkauft, online oder als Resultat flüchtiger Begegnungen. Wichtig ist: Es muss unverbindlich bleiben, darf nichts mit ihm zu tun haben, der Fluchtweg muss jederzeit offen sein. In Bedrängnis bringen ihn Frauen, die ihm zu nahe rücken, so wie die nette Kollegin, die mehr will als nur einen Gelegenheitsfick, oder vor allem die etwas derangierte Schwester Sissy, die plötzlich bei ihm aufkreuzt und sich halb gegen seinen Willen bei ihm einquartiert. Von ihren Sorgen und Nöten (zum Beispiel den vielen dünnen Narben auf den Unterarmen) will er eigentlich gar nichts wissen, denn sie erinnern ihn viel zu sehr an die eigenen, die er sonst so gründlich verdrängt, und als sie ausgerechnet noch mit seinem bräsigen Boss ins Bett geht, ist das Maß voll und es kommt zum Streit. Erst als sie sich die Pulsadern aufschneidet und er sie mit knapper Not retten kann, kommt er für einige Momente zur Besinnung. Die letzte Szene aber zeigt ihn wie zuvor in der U-Bahn in intensivem Blickkontakt mit einer jungen Frau.

   Dieser Blick aber ist deutlich ernster und reservierter als jener, mit dem er sonst umwerfenden Erfolg hat bei dem Damen. Der Mann hat Wirkung gezeigt, just als er sich mit aller Macht losreißen wollte aus der bedrohlichen Nähe und Enge und Sissys Selbstmordversuch ihn daran erinnert, dass er entgegen seiner größten Überzeugung doch eine Verantwortung hat. Wir sind eine Familie, schärft sie ihm mehrmals ein, und er weiß genau, sie ist ihm zu ähnlich, weiß zuviel über ihn, ihr gegenüber funktioniert die coole, smarte Fassade nicht. In Ansätzen erlebt er ähnliches mit der Kollegin, mit der’s im Bett nicht klappt, weil sie ihm klarmacht, dass es ihr ernst ist und sie ihn nicht nur als Sexobjekt benutzen möchte.

   Ansonsten geht es sehr viel um Objekte und um benutzen. Liebe ist Zeiten des Totalkapitalismus, eine kühle und dennoch eindringliche Bestandsaufnahme einer Gesellschaft, die in jeder Hinsicht auf Distanz gegangen ist. Wir erleben Brandon immer wieder, wie er sich zuschaut, fast als schaue er einem Fremden zu, wie er sich in spiegelnden Flächen betrachtet, wie er sich beim Vögeln oder Wichsen betrachtet, ein vollständiger Naziß, aber ein freudloser. Kein Partyhengst sondern ein einsamer Stadtwolf. Kein Genießer, sondern ein Getriebener. Kein charmanter Flirter, sondern ein dunkel faszinierender Kerl, der die Frauen durch seine Schweigsamkeit und seine etwas geheimnisvoller Aura anzieht. Humor geht ihm ebenso ab wie Zärtlichkeit oder Wärme. Seine Blicke sind zumeist abwartend, fast misstrauisch und darauf bedacht, Frauen zugleich anzulocken und auf Abstand zu halten. Auf Sissys tollpatschige Annäherungen reagiert zu zuerst ungehalten, dann zunehmend aggressiv, sein „Versagen“ bei der Kollegin kann er überhaupt nicht verkraften und muss sich gleich danach kräftig mit gleich zwei Nutten beweisen. Der drohende Verlust der Schwester reißt ein vorübergehendes Loch in die eisige Front, doch wie man am Ende sieht, wird er es wieder schließen, auch wenn vielleicht eine kleine Spur verblieben ist.

 

   Michael Fassbender spielt diese ebenso komplexe wie herausfordernde Rolle schlicht grandios, und der Film lebt sehr maßgeblich von seiner Ausstrahlung, seiner Körpersprache und Mimik, wobei er die gleiche rückhaltlose Bereitschaft wie in McQueens „Hunger“ zeigt, jedweden Abgrund seiner Rolle auszuloten oder jedenfalls vor nichts zurückzuschrecken. Ganz große Schauspielkunst. Carey Mulligan hätte meinetwegen gern ein wenig mehr Raum erhalten können, aber immerhin darf sie eine stark entschleunigte Version der Sinatra-Hymne „New York, New York“ zum besten geben und wenigstens ansatzweise ein starkes Porträt einer empfindsamen und offenbar gezeichneten jungen Frau abliefern. Steve McQueen hat die ideale Bildsprache für sein dunkles Drama gefunden, einen fast meditativen Fluss, begleitet von fast meditativer Musik und gekennzeichnet durch einen brillanten Blick für Räume, sowohl innen als auch in der Stadt. Die Stadt und die Gesellschaft, die sie beherbergt, sind fast gleichwertige Hauptfiguren hier, Brandon wird zwar stark individualisiert und herausgehoben, wir können uns jedoch leicht vorstellen, dass er nur ein extremes Symptom einer Entwicklung ist, die längst schon breite Kreise gezogen hat und darauf zurückführbar ist, dass totale Kommerzialisierung und Entfremdung auf Bereiche übergegriffen haben, in die sie normalerweise nicht gehören. Neben der fesselnden Psychostudie des sexsüchtigen Einzelgängers entsteht so ein nicht minder starkes, dringliches Porträt einer kranken Zeit und ihrer Bewohner. Bemerkenswerterweise gelingt es McQueen, dies sehr deutlich und nachdrücklich festzustellen, ohne in larmoyantes Jammern zu verfallen – nur eine der vielen Vorzüge dieses in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Films. (6.3.)