We need to talk about Kevin (Wir müssen über Kevin reden) von Lynne Ramsay. England/USA, 2011. Tilda Swinton, Ezra Miller, John C. Reilly, Jasper Newell, Ashley Gerasimovich

   Lionel Shrivers brillanter Roman liegt schwer im Magen – und das gilt auch für diesen Film, gottseidank, denn alles andere wäre nicht angemessen gewesen. Die Geschichte einer Mutter, die ihren Sohn nicht lieben kann und sich dennoch unermüdlich an ihrer Mutterrolle abarbeitet, die Geschichte eines Sohnes, der umgekehrt schwer zu lieben ist und der schließlich ein Massaker anrichtet, Vater und Schwester sowie Schulkameraden und Lehrer mit Pfeil und Bogen tötet, bevor er sich mit großer Geste festnehmen und einsperren lässt. Die Geschichte einer einst glücklichen Ehe, die langsam aber sicher den Bach runtergeht, die Geschichte einer Familie, die auf dünnem Eis lebt und schließlich in einer furchtbaren Tragödie endet, die Geschichte einer Frau, die einst lebenslustig und beruflich erfolgreich war, dann den Übergang zum neuen Leben nicht auf die Reihe kriegt, und die nun in einem heruntergekommen Haus lebt, in der Öffentlichkeit Spießruten läuft, und einen schäbigen kleinen Job ergattert, wobei sie nirgendwo sicher ist vor Mobbing und Erniedrigung, denn ihr gibt man vorrangig die Verantwortung für die Tat ihres Kindes. Eine Frau, die ihren Sohn weiterhin im Gefängnis besucht, die ihn manchmal ratlos anschweigt, und schließlich doch fragt, warum er die Bluttat beging. Seine Antwort ist vorauszusehen. Ich dachte, ich wüste es, doch mittlerweile weiß ich es nicht mehr.

   Die erste Viertelstunde ist ebenso großartig wie verstörend, eine Kakophonie in zerrissenen Bildern und Tönen, die wir erst später halbwegs ordnen können, wenn der Rhythmus von Gegenwartserzählung und Rückblende ein wenig durchschaubarer geworden ist. Ausgehend von Evas gegenwärtig isolierten, fast völlig abgeschotteten Leben geht der Blick immer wieder zurück zu verschiedenen Phasen und Episoden der Vergangenheit: Kurze Schlaglichter auf ihre Arbeit als Reisejournalistin, das Kennenlernen ihres Mannes Franklin, Schwangerschaft und Geburt, die wachsende Unbehaglichkeit, die fehlende Identifikation. Schon die schwangere Eva ist im Kontakt mit all den anderen in sich ruhenden Glucken nicht mehr sie selbst, und ihre Versuche, mit ihrem Sohn zurechtzukommen, stehen von Anfang an unter keinen guten Stern. Diese Szenen sind sowohl im Buch als auch im Film die stärksten, beklemmendsten, dramatischsten. Darf eine Mutter ihr Kind nicht lieben? Oder anders gefragt: Muss eine Mutter ihr Kind automatisch lieben? Ist Eva im vollen oder wenigstens teilweisen Umfang für Kevins Entwicklung verantwortlich, hat ihre fehlende Mutterliebe ihn zum Soziopathen gemacht oder gibt es am Ende Kinder, die von Grund auf böse sind? Ein Haufen provozierender Fragen, eingebettet ihn Szenen von geradezu fürchterlicher Intensität, in denen Eva versucht, Mutter zu sein, Levin mit Liebe und Geduld zu begegnen, allein gelassen mit einem schreienden und verweigernden Kind, allein gelassen von ihrem Mann, bei dem Kevin plötzlich ganz ruhig und gefügig ist, allein gelassen vom Kinderarzt, der lediglich feststellt, dass Kevin völlig gesund ist und ihre Not nicht sieht, allein gelassen allgemein von einer Gesellschaft, für die Mutterliebe eines der höchsten Güter ist und vor allem absolut selbstverständlich. Eva aber ist unbeholfen, unsicher, verbissen, sie kann Kevin keine wirkliche Wärme und Liebe entgegenbringen, und das Kind rächt sich furchtbar. Ein berechnendes, verweigerndes, grausames Monstrum, das Mutter und Vater instinktsicher gegeneinander ausspielt, aus Nahrungsmitteln und Exkrementen veritable Waffen macht und die holperigen Annäherungsversuche der Mutter eiskalt vor die Wand laufen lässt. Als Eva schließlich mit Gewalt reagiert und Kevin sich einen Arm bricht, hat sie endgültig verloren. Franklin gegenüber nimmt Kevin die Mutter scheinbar in Schutz und erfindet einen Unfall, doch fortan genügt es, dass er sich vielsagend über die Narbe streicht, um sie in der Hand zu haben. Als dann später die Schwester geboren wird, im Gegensatz zu ihm der reine Sonnenschein, ist die Eskalation vorprogrammiert, und der älter werdende Kevin benutzt seine ganze teuflische Intelligenz, um die Balance der Familie konstant zu kippen. So jedenfalls sehen wir es, so sieht Eva es, und aus ihrer Sicht werden Buch und Film erzählt. Man muss sich darauf einlassen, aber ich finde das auch völlig überzeugend, denn eine solche Geschichte kann man nicht objektiv oder aus der Distanz erzählen. Natürlich wissen wir, dass sich das ganze aus Kevins oder etwa Franklins Perspektive völlig anders ausnehmen würde, und nur weil wir (gezwungenermaßen) bei Eva bleiben, heißt das ja nicht, dass wir ihr zustimmen oder für ihre Handlungen immer Verständnis haben. Ein wichtiger Teil des Dramas entsteht aber daraus, dass sie sich hilflos und allein gelassen fühlt, ausgeliefert diesem Kind mit dem finsteren dunklen Blick, nicht ernst genommen von ihrem Mann, der sich lieber in die typische Vater-Sohn-Kumpanei flüchtet, und der bei Tageslicht besehen auch eine ziemlich klägliche Rolle spielt – aus Evas Sicht auf jeden Fall! Denn paradoxerweise wird in dem ganzen Film über Kevin nur sehr wenig geredet, und wenn, dann hat man dauernd das Gefühl, dass Eva sich nicht verständlich machen kann und Franklin sie vielleicht auch gar nicht verstehen will, weil eine Mutter, die mit ihrem Kind nicht klarkommt, die darf es einfach nicht geben.

 

   Lynne Ramsay hat es grandios verstanden, die fatale Verstrickung von negativen Emotionen und totaler Sprachlosigkeit nachfühlbar, sichtbar werden zu lassen. Ihr Film ist sperrig und schwierig, unerwartete Bild- und Tonattacken gehören ebenso dazu wie eine komplexe, sehr unchronologische Erzählung und ein bisweilen schroffes Springen zwischen den Zeitebenen. Tilda Swinton ist natürlich großartig in ihrer Rolle als Eva, aber auch die verschiedenen Darsteller des Kevin bringen eine sehr beunruhigende Ambivalenz ein, die maßgeblich ist für Evas tiefgehende Verunsicherung und Angst. Ein enorm ausdrucksstarker, intensiver Film, der genau wie das Buch zugleich bewegt, abstößt und einen emotionalen Zwiespalt auslöst, der nicht immer ganz leicht auszuhalten ist. Wer auf der Suche nach einem entspannten Kinoabend ist, sollte Abstand nehmen, wer gern auch mal mehr mitnehmen (und vielleicht gar über Kevin „reden“) möchte, wird jede Menge Futter kriegen, auch wenn es häufig im Halse stecken bleiben wird. (14.12.)