Blancanieves von Pablo Berger. Spanien/Frankreich, 2013. Macarena García, Maribel Verdú, Daniel Giménez Cacho, Ángela Molina, Inma Cuesta, Sofía Oria
Erst räumen die Franzosen mit “The Artist” allüberall groß ab, nun schieben die Spanier einen Stummfilm, hinterher, obwohl es sich ja angeblich so zugetragen haben soll, dass Pablo Berger die Idee bereits lange vor dem anderen Film hatte und lediglich von den Kollegen überholt wurde. Nun sieht es also so aus, als sei er der Nachäffer, was ihn angeblich mächtig geärgert hat. Kann man irgendwie verstehen...
Abgesehen davon muss sich „Blancanieves“ hinter seinem französischen Kumpel auf gar keinen Fall verstecken. Eine enorm vitale, wunderbar gefühlvolle und intensive Mischung aus Gebrüder-Grimm-Stoff (Schneewittchen in diesem Fall), Luis Buñuel, Carlos Saura und aktuelleren Einflüssen des spanischen Kinos, kühn und ebenso überzeugend gemixt, angereichert mit Flamenco und Stierkampf, und entstanden ist ein barockes, mitreißendes und extrem fotogenes Märchen für Erwachsene. Der Übertrag in den iberischen Kulturkreis gelingt mühelos, die klassischen Grimm-Motive sind integraler Bestandteil einer sehr spanischen Story und in ihrer Herkunft dennoch identifizierbar (wenn man denn darauf Wert legen sollte...), das Konzept insgesamt wirkt total schlüssig und konsequent. Die Huldigung an das Kino der Stummfilmära ist offensichtlich, aber auch oben erwähnte spanische Großmeister haben klar erkennbare Spuren hinterlasen, und gerade das gibt dem Film seine eigenartige und extrem reizvolle Note. Mal sehen wir eine grimmige Bürgersatire à la Saura, mal erscheint Don Luis mit seinem spöttischen, unberechenbaren Surrealismus, bevor zum Schluss der Zirkus, die Arena, die großen Momente und Emotionen das Steuer übernehmen und wir wieder deutlich in Märchengewässern unterwegs sind. Sowohl die optische als auch die akustische Ausstattung sind exquisit (auch wenn die Kamera wie schon im Artist ein wenig zu beweglich ist für originäre Stummfilmverhältnisse) und die Schauspieler, vor allem die drei leading ladies mit ihren tollen Gesichtern drücken ihren Szenen einen unvergesslichen Stempel auf und sorgen dafür, dass die Emotionen ganz unmittelbar zu uns rüberkommen. Ángela Molina (die mit Mitte fünfzig glatt zwanzig Jahre älter aussieht) ist eine leidenschaftlich expressive Großmutter, Maribel Verdú eine genüsslich fiese böse Stiefmutter und Macarena García eine hinreißend schöne und strahlende Carmen. Das Spiel mit (Stereo-)Typen ist offenkundig, wird aber nicht auf die Spitze getrieben, der Respekt vor der alten Kunstform ist groß, lähmt aber den Regisseur nicht so sehr, dass er bei reiner Nostalgie stehen geblieben ist, sodass alles in allem ein erstaunliches, vergnügliches und überaus ansehnliches Kinoerlebnis dabei herausgesprungen ist, und wenn die Leute von heute mit dem guten alten Stummfilm weiterhin so gekonnt umgehen, kann es meinetwegen gern noch ein paar von der Sorte geben. (14.12.)