La vie d’Adèle – chapitres 1 + 2 (Blau ist eine warme Farbe) von Abdellatif Kechiche. Frankreich/Belgien, 2013. Adèle Exarchopoulos, Léa Seydoux, Aurélien Recoing, Catherine Salée, Salim Kechiouche, Mona Walravens
Vor sechs Jahren lud uns Kechiche für zweieinhalb Stunden ein zu Couscous mit Fisch in Sète am Mittelmeer. Diesmal hat er noch ne halbe Stunde draufgepackt und sich in Lille niedergelassen, das sind einerseits nur tausend Kilometer nach oben, andererseits ist das zumindest für Franzosen ungefähr am anderen Ende der Welt – vom Süden aus betrachtet. Außerdem hat er jede Menge Prügel eingesteckt für seine angeblich tyrannischen Arbeitsmethoden, auch von den Schauspielerinnen, die sich später dann, nachdem sie alle zusammen die Goldene Palme in Cannes eingeheimst haben, ein wenig moderater äußerten. Na so was... Und dann sind da natürlich noch die angeblich skandalösen, „expliziten“ Sexszenen, du liebe Güte, immer noch das gleiche Affentheater, auch im ach so aufgeklärten, modernen Europa. Will das niemals anders werden...?
Mir geht dieses idiotische Gefasel mit Verlaub am Arsch vorbei, ich habe versucht, den Film als das zu sehen, was er auf der Leinwand ist, und das halte ich schlicht und einfach für ein Meisterwerk. Das geht auch mit einer ganz simplen Geschichte: Zwei Frauen begegnen sich, verlieben sich, trennen sich und finden nicht wieder zusammen. Wie Kechiche daraus die drei kürzesten Kinostunden der letzten Jahre gemacht hat, ist schon ein Kunstwerk für sich, zumal ihm diesmal, anders als im Couscousfilm, keinerlei Längen unterlaufen sind. Denn aus der simplen Geschichte wird natürlich viel mehr. Wir lernen die anfangs fünfzehnjährige Schülerin Adèle kennen, wir lernen sie als Suchende kennen, als Teil einer Girlieclique, in der täglicher Sensationsberichte von sexuellen Abenteuern eine große Rolle spielen. Adèle will sich an dem Wettstreit eigentlich nicht beteiligen, doch ihr erster Versuch mit einem Jungen aus der Zwölften wird dennoch kein richtiger Erfolg, weil sie sofort spürt, dass sie gefühlsmäßig nicht wirklich dabei ist. In einem Gayclub lernt sie schließlich Emma kennen, eine blau gefärbte Künstlerin, mindestens zehn Jahre älter, die große Liebe. Die beiden gehen eine extrem intensive Beziehung ein, die einen entscheidenden Riss bekommt, als Adèle anlässlich einer Feier für Emmas merkt, dass sie nicht zu all den intellektuellen und Künstlern passt, die ihre Geliebte umgeben. Verunsichert und verwirrt beginnt sie eine bedeutungslose Affäre mit einem Kollegen in der Lehrerausbildung. Emma kommt dahinter und wirft sie wütend aus dem Haus, und alle Versuche, sich ihr wieder zu nähern, sind vergebens. Drei Jahre später treffen sie sich in einem Café wieder. Adèle hat ihre Laufbahn als Lehrerin fortgesetzt, obgleich Emma sie immer zum Schreiben ermutigen wollte. Die beiden sind noch immer sehr zueinander hingezogen, doch Emma lebt mit einer früheren Freundin und deren Kind zusammen, ihre neue Familie, wie sie sagt, und es gibt kein Zurück. Das endgültig letzte Aufeinandertreffen geschieht auf einer Vernissage. Emma hat es endlich nach langen Kämpfen zu einer Ausstellung gebracht und Adèle eingeladen, die einst für viele ihrer Bilder Modell gestanden hatte und allgemein bewundert worden war. Adèle kommt und sieht sich mit der vertrautren Situation konfrontiert: Sie steht wie ein Fremdkörper in der Galerie herum, wird hier und da mal freundlich angesprochen, doch niemand nimmt sie wirklich wahr, integriert sie in die Kunstszene, zu der sie ganz offensichtlich auch nicht gehört. Adèle steckt auch diesen letzten Schlag ein, dann verlässt sie die Galerie und geht davon, die Kamera verfolgt sie noch ein Stück die Straße herunter, dann ist der Film vorbei.
Adèle geht aus einem Leben, das trotz all ihrer Versuche nie ganz ihres geworden ist, in ein Leben, das sie sich aufgebaut hat, gegen Emmas Willen, die lieber eine gleichwertige Intellektuelle an ihrer Seite gehabt hätte und Adèle vorgeworfen hat, sie würde als Lehrerin ihre Möglichkeiten vergeuden. Adèle und wir wissen es besser, erleben sie in ausführlichen Szenen zusammen mit den Kindern, erkennen, dass dies genau ihr Ding ist. Ob sie allerdings jemals wieder eine solch intensive Beziehung eingehen wird, kann man wohl bezweifeln. Sie erzählt Emma von ein paar flüchtigen Affären, man sieht in jeder Szene, wie sehr sie trauert, leidet, noch an Emma hängt, und auch Emma gibt zu, dass ihr Leben mit Lise längst nicht so leidenschaftlich ist wie mit Adèle, doch am Ende ist klar, dass die beiden unter diesen Umständen keine Zukunft haben.
Kechiche erzählt ein Liebesdrama ohne jegliche melodramatische Tricks und doch mit viel mehr Wucht und Eindringlichkeit, als die meisten vergleichbaren Machwerke. Er lässt sich enorm detailliert auf Adèles Alltagsleben zwischen Schule und Elternhaus ein, zelebriert die Annäherung der beiden sehr verschiedenen Frauen in wunderbar intimen, zärtlichen Szenen, und fängt den Bruch und Adèles Trauer in ebenso intensiven Momenten ein. Emmas Gefühlswelt kommt eher von außen mit hinein, sie bleibt ein wenig fremd, eine schon erfahrene, immer ein wenig überlegen wirkende Frau, die anfänglich eher amüsiert flirtet, sich dann doch ganz einlässt auf die stürmische Liebe zu dem jungen Mädchen, die aber dann nach einiger Zeit erkennen lässt, dass ihr Fortkommen als Künstlerin ihr mindestens ebenso wichtig ist, und die auch Zweifel erweckt, ob ihr auf Dauer ein Mädchen genügt, das intellektuell gar keine oder kaum Ambitionen hat, außer dass es gern und viel liest, und das sich in den entsprechenden Kreisen denkbar unbeholfen bewegt. Entsprechende Kreise heißt hier, sich stundenlang über den Unterschied zwischen Egon Schiele und Gustav Klimt zu ereifern... Adèle ist uns näher, viel näher, wir nehmen Anteil an ihrem täglichen Tun, wir sehen sie schlafen, fantasieren, masturbieren, sehen sie mit ihrem besten Freund, sehen sie auf Demos in der Innenstadt, in Diskos und tagsüber mit der Zickenclique auf dem Schulhof. Ein ganz normales Mädchen, das durch die Begegnung mit Emma auf Gefühle und Erfahrungen stößt, die sie vielleicht auch überfordern: Ihren biederen Eltern kann sie unmöglich die Wahrheit sagen, und so fungiert Emma dort als Nachhilfelehrerin für Philosophie, und auch vor Mitschülern und später Kollegen kann sie nicht zu ihrer Liebe stehen, weil Lesben halt nicht so irre populär sind und sie noch nicht Emmas Standing hat. In dieser Überforderung reagiert sie wiederum wie ein ganz normales Mädchen, und endlich hat sie auch vor uns ein paar Geheimnisse, und wir erfahren von ihrer Affäre mit dem Kollegen erst, als sie der aufgebrachten Emma beichtet – eine kopflose Flucht, eine Dummheit, trotzdem natürlich eine schwer verzeihliche Verletzung.
Speziell die Szenen mit Adèle und Emma sind von großartiger Schönheit, und was speziell Adèle Exarchopulos, aber auch Léa Seydoux hier spielen, gehört zum gefühlvollsten und besten, was ich seit langer Zeit im Kino erleben durfte. Mag sein, dass die beiden von Kechiche übel schikaniert und manipuliert und drangsaliert wurden, aber er hat ihnen schauspielerische Leistungen abgerungen, an die man sich zu Recht noch lange erinnern wird (zu diesem Thema siehe auch Lars von Trier...). Dieser Film hat mich von vorn bis hinten bewegt, beeindruckt, gefesselt, hinter seiner vermeintlich schlichten, kunstlosen Fassade liegt ein total überzeugendes und total konsequent realisiertes Konzept, und abseits vom ganzen Aufruhr um wer weiß was sollte man sich nicht täuschen: Dies ist nur eine Liebesgeschichte. Natürlich ist spielt es eine Rolle, das es eine homosexuelle Liebesgeschichte ist, denn speziell Adèle hat mit Widerständen zu tun, die sie bei einer heterosexuellen Beziehung sicherlich nicht hätte, aber wenn man nur auf die beiden Frauen schaut, geht es hier wie in fast allen anderen Liebesgeschichten um die gleichen Dinge. Die Frage ist, wie man sie zeigt, wie man darüber spricht. Und da ist Kechiche meiner Ansicht nach etwas ganz Besonderes gelungen und auf jeden Fall ein abschließendes Highlight des Kinojahres 2013, das hiermit ein würdiges Finale gefunden hat. (30.12.)