A nagy Füzet (Das große Heft) von János Szász. Ungarn/BRD, 2013. András Gyémánt, László Gyémánt, Piroska Molnár, Orsolya Toth, Ulrich Thomsen, Ulrich Matthes, Gyöngyvér Bognár, Diána Kiss
Zwei Brüder, Zwillinge, ohne Namen. Es ist 1944 und Krieg, irgendwo im Osten. Die Familie lebt gut in der Stadt, der Vater kommt zwischendurch in Uniform von der Front nach Hause. Die Brüder werden von der Mutter zur Oma an den Stadtrand gebracht, weil es dort sicherer sein soll. Der Vater hat ihnen ein Buch mitgegeben, in das sie alles, was sie denken und erleben, hineinschreiben sollen. Akribisch halten sie fest, wie sie mit den Ereignissen während des Krieges und nach Kriegsende umgehen, was sie lernen und wie sie das Gelernte umsetzen. Am Ende sind Großmutter, Mutter, Vater und andere, die sie kennen lernten, tot, nur sie leben noch. Eine letzte Prüfung müssen sie noch bestehen: Ihre Trennung. Einer geht über die Grenze ins Nachbarland, einer bleibt zurück.
Die erschütternde Chronik einer systematischen Entmenschlichung. Zwei Jungen sehen die Welt um sich herum, lernen aus dem, was sie sehen und erleben, ziehen ihre Konsequenzen und sind am Schluss zugleich Produkt und Abbild dieser Welt. Darwinismus pur, leider auf die pervertierte Weise. Nur wer keine Schwäche hat (oder zeigt) überlebt. Keine Angst, keine Schmerzen, keine Gefühle, eigentlich gar nichts Menschliches. Beide Jungen, die wie alle anderen Figuren und Schauplätze keine Namen haben, durchlaufen ein grausames, trostloses Initiationsprogramm, geprägt vom Krieg und davon, was er aus den Menschen macht. Womit das Hauptthema der Geschichte umrissen wäre. Die Jungen dienen als Spiegel der Menschen um sie herum, tun genau das, was diese auch tun. Sie lernen zu lügen, zu berechnen, zu verbergen, zu stehlen und schließlich zu töten. Sie töten direkt und indirekt, unbarmherzig und fast schon barmherzig, sprengen eine fiese Magd in die Luft, leisten ihrer schwer kranken Oma Sterbehilfe und schicken ihren eigenen Vater ins Minenfeld, um über selbiges letztlich einen Weg ins andere Land zu finden (den dann aber nur einer der beiden nehmen wird). Am Ende die völlige Einsamkeit als größte Prüfung. Alle anderen Menschen sind fort, Familie, auch die wenigen Freunde. Die hasenschartige Diebin wird vom russischen „Befreier“ zu Tode vergewaltigt, der jüdische Schuhmacher, der beiden je ein Paar warme Stiefel schenkt, von der Magd an die Nazis verraten und mit all den anderen deportiert.
Jener Moment, in sich die beiden verzweifelt an ihre Mutter klammern und versuchen, sie am Davonfahren zu hindern, ist ungefähr ihr letzter kindlicher Augenblick. Danach werden sie schnell und gründlich erwachsen, werden geprügelt, verfolgt, sexuell missbraucht. Hass, Lüge, Gewalt, Faschismus und Bigotterie umgeben sie, und die griesgrämige, ruppige und total egozentrische Oma tut’s auch nicht grad als Gegengewicht. Sie gehen bei den Erwachsenen sozusagen in die Lehre, beleidigen und prügeln sich gegenseitig, härten sich systematisch ab, verbannen jede Gefühlsregung aus ihrem Leben, und am Ende blickt man in zwei kohlschwarze, unergründliche Augenpaare, hinter denen absolut nichts zu lesen steht. Hinter denen vielleicht auch gar nichts mehr ist. Dazu der ebenso minutiöse wie emotional total unbeteiligte Kommentar der Bucheintragungen, in denen die Jungen beschreiben, was sie tun und was ihnen geschieht und in denen sie auch ihre nächsten Schritte und Aufgaben festlegen. Noch härter werden, noch fitter für den Überlebenskampf.
Ein extrem beklemmendes privates wie gesellschaftliches Psychogramm und sicherlich in dieser Form eine der eindrucksvollsten Aussagen über Menschen im Krieg überhaupt. Kinder als Opfer und Spiegel haben sich immer gut geeignet (siehe auch „Les jeux interdits“), und genau wie Paulette und Michel wird man auch diese beiden Jungen wohl nicht so schnell wieder los. Der Lernprozess, die eine in sich völlig zerstörte Menschheit ihnen geradezu aufzuzwingen scheint, ist genau der gleiche, den viele vor ihnen durchlaufen haben, und groteskerweise scheint ihre Entscheidung eine Entscheidung für das Leben und gegen den Tod zu sein, denn ohne ihr eisernes Festhalten an ihren Vorsätzen wären sie wohl wie viele andere unter die Räder gekommen. Wie sie selbst am Schluss am Grenzzaun vorführen: Ab und zu muss man jemanden vorausschicken, um selbst durchzukommen.
Der Film im ganzen ist genau so eindrucksvoll und stark wie die beiden Hauptfiguren. Ein in klaren, schroffen Bildern formulierter Bericht von der Apokalypse, großartig gespielt (wobei ich mich fragte, was ein mittlerweile internationaler Star wie Ulrich Thomsen darin zu suchen hat), sehr osteuropäisch in vielen, sowohl den Details als auch der gesamten Perspektive. Uns wird immer wieder klar, dass, egal wie schlimm der Krieg hierzulande auch gewesen sein mag, die Erlebnisse der Menschen im Osten noch von ganz anderer Dimension gewesen sein müssen, sowohl was das irrsinnige Wüten der Deutschen angeht als auch die Zeit nach der sogenannten Befreiung, die ja eben gar keine war, wie hier auch schon angedeutet wird. Der Roman von Ágota Kristóf, auf dem dieser Film basiert, ist nur der erste einer Trilogie, die dann den weiteren Weg der Zwillinge beschreibt. Wenn man das hier Gesehene und Erzählte Revue passieren lässt, kann man einfach nichts Gutes erhoffen, zumal die Ereignisse jenseits des Eisernen Vorhangs nach dem Krieg ja auch nicht so hoffnungsfördernd waren. Aber das ist gottseidank eine andere Geschichte... (27.11.)