Die andere Heimat von Edgar Reitz. BRD/Frankreich, 2012. Jan Dieter Schneider, Antonia Bill, Maximilian Scheidt, Marita Breuer, Rüdiger Kriese, Philine Lembeck, Mélanie Fouché, Eva Zeidler, Reinhard Paulus, Barbara Philipp, Christoph Luser, Rainer Kühn, Konstantin Buchholz, Andreas Külzer
Untertitel: Chronik einer Sehnsucht. Womit eigentlich schon fast alles gesagt wäre. Wie der gestrige Film ist auch dies großes Kino – diesmal aber in ganz anderem Ausmaß. Auch ein Film aus dem Alltag, allerdings einem, der schon über anderthalb Jahrhunderte zurück liegt. Fast genauso lang liegt es zurück, dass ich zuletzt einen Film von Edgar Reitz gesehen habe. Das war „Heimat 3“, und darüber war ich gar nicht glücklich, konnte keine Beziehung aufbauen zu den Personen dort und ihren Erlebnissen, ganz anders als in dem bravourösen ersten Teil der Heimat-Trilogie, der die Schabbach-Chronik zwischen den Weltkriegen erzählt, und der wirklich ein außerordentliches Kinoerlebnis ist (der zweite Teil der Heimat fehlt mir leider immer noch).
„Die andere Heimat“ rollt die Chronik eines fiktiven Hunsrückdorfes nun von hinten auf, erzählt aus den Jahren 1842 bis 45. Der Film stellt Jakob Simon vor, Sohn des Dorfschmiedes, einen jungen Burschen, der nicht ganz den Erwartungen seiner Eltern entspricht, der sich lieber vor der harten Arbeit drückt, Zuflucht in der entlegenen Natur sucht und sich in Bücher vergräbt, und zwar fast ausschließlich Bücher über Brasilien. Brasilien ist zu der Zeit bevorzugtes Ziel der Auswanderer aus der Gegend und außerdem Jakobs Land der Träume, Objekt seiner großen Sehnsucht. Mit Eifer und Verbissenheit eignet er sich Wissen an, saugt jedes Detail über Fauna und Flora in sich auf, erlernt sogar die verschiedenen Indianersprachen, soweit sie halt schon überliefert und erforscht wurden. Die Realität um ihn herum steht in deutlichem Gegensatz zu seinem privaten Wolkenkuckucksheim: Einfaches Leben am Rande der Armut, die Feudalherrschaft, die nach wie vor mit Willkür, Anmaßung, gelegentlich auch Brutalität ausgeübt wird, erstes Aufbegehren in Studentenkreisen, eine Art Schnuppern am Vormärz vielleicht, aber in dem kargen, entlegenen Landstrich eher nicht. Die Familienbande sind sehr eng, und als Jakob ein Auge auf die forsche Jette wirft, werden sie ihm praktisch zum Verhängnis, denn er verpasst die Chance, und sein älterer Bruder Gustav, just zurück vom Militär, vernascht das Mädchen auf dem Dorffest. Der Bruch zwischen den Brüdern kann nie ganz gekittet werden. Gustav und Jette bekommen ein Mädchen, verlieren es bald darauf wie so viele andere ihre Kinder an die Diphterie verlieren, und entschließen sich dann, nach Brasilien auszuwandern, und wieder steht Jakob hintenan, denn nun muss er daheim bei den Eltern bleiben, die älter und hinfälliger werden. Er fügt sich in dieses Schicksal, nimmt Jettes Freundin Florinchen zur Frau und wartet auf die erste Nachricht der Auswanderer aus der ersehnten Ferne.
Nur die letzten fünfzehn, zwanzig Minuten hätte ich persönlich nicht so sehr gebraucht, denn das Bild der Fuhrwerke, wie sie sich übers Land in Richtung Rheinhafen langsam aber stetig von ihrer Heimat entfernen, wirkt so stark, dass ich es gern als das Abschlussbild gesehen hätte. Und speziell Werner Herzog als Werner von Humboldt hätte ich ganz sicher nicht gebraucht, eine leicht skurrile Episode, die im Ton seltsam aus dem übrigen Film herausfällt (und ich weiß nie so genau, ob sich Herzog nicht tatsächlich für einen zweiten Humboldt hält...). Dennoch ist dies eine in jeder Hinsicht beeindruckende, epische, großartige Vision von einer lang vergangenen Zeit, die hier auf unglaublich ruhige und gründliche Weise so lebendig wird wie nie zuvor. Gernot Rolls grandiose Schwarzweißbilder mit einigen überraschenden Farbtupfern drin geben den Geschichten aus Schabbach einen würdigen Rahmen, zeigen das Leben im Wechsel der Jahreszeiten, zwischen Dorf und Feld, Schmiede, Wirtshaus, Kirche und auch Weinberg. Reitz schafft dazu griffige, auf unaufdringliche Art sehr markante Charaktere, die zusammengenommen ein komplexes und komplettes Gesellschaftsbild ergeben, jedenfalls bezogen auf die dörfliche Gesellschaft. Die traditionellen Werte, nach denen die Familie Simon wie jede andere wie selbstverständlich lebt, sind auch für Jakob durchaus bindend, dennoch sucht er nach einem anderen, weiteren Horizont, sehnt sich nach einem anderen Leben, ohne den Mut zu finden, diese Sehnsucht in die Tat umzusetzen, und als er die notwendigen Papiere endlich beisammen hat, ist sein Bruder einmal mehr schneller. So gesehen ist dies auch die Chronik mehrerer unerfüllter Sehnsüchte, denn Jakob kommt weder nach Brasilien noch kriegt er Jette zur Frau, auch wenn die beiden ihren Gefühlen wenigstens einmal ganz kurz und im Geheimen freien Lauf lassen. Immerhin nimmt Jakob spät die Rolle des ersten Sohnes beim mürrischen Vater ein und führt sogar Gustavs Karriere als Erfinder mit viel Erfolg fort, indem er die Dampfmaschine perfektioniert, und auch sonst ein besessener Büchermensch bleibt. Innerlich aber bleibt er auf dem Sprung, auch die Heirat mit Florinchen ist ganz klar nicht mehr als eine Konzessionslösung, damit die Familie Ruhe gibt. Schön ist der Moment kurz vor Schluss, als er unter Tränen Gustavs und Jettes Brief aus Brasilien vorliest, wobei gerade die Tränen sehr verschieden interpretiert werden können, und ihn Florinchen ansieht, wohl wissend, dass sie niemals mit dem Fernweh ihres Mannes konkurrieren kann, sondern immer die zweite Wahl bleiben wird. Zwischendurch wird dann auch mal der Blick ein wenig aufgehoben von der engen Schabbacher Perspektive, als Jakob zusammen mit einem aufmüpfigen Burschen im Gefängnis landet und eine ganz andere Realität am eigenen Leibe zu spüren bekommt. Dies bestätigt ihn natürlich nur noch in seinem Entschluss, dem Land den Rücken zu kehren und verstärkt gleichzeitig das Drama seines Scheiterns, denn als er nach der Haft zurück nach Schabbach ins elterlicher Haus kommt, scheint zunächst einmal kein Platz für ihn zu sein.
In den fast vier Stunden Laufzeit hat der Film, haben die Bilder viel Zeit und Raum zum Atmen, und das tun sie, und das tut unerhört gut. Reitz beschreibt die Schabbacher vielleicht weniger liebevoll als vielmehr sehr respektvoll. Er schildert das buchstäblich entbehrungsreiche Leben ohne falsche Nostalgie, ohne Pathos, manchmal mit leisem Humor, vor allem aber sehr aufmerksam und unvoreingenommen. Solch ein Film lässt sich logischerweise nicht so einfach runterkonsumieren, er will erforscht, will erlebt werden, er verlangt die absolute Bereitschaft, sich voll und ganz auf die Geschichte mit all ihren Untiefen und Sprüngen einzulassen. Wie schon im ersten Teil der Heimatserie überspringt Reitz auch diesmal mehrere Jahre, ohne dass es auf den ersten Blick so scheint, nur wirkt dieser Film wesentlich dichter und intensiver, weil es halt nicht so viele Jahre sind und die Hauptfiguren durchgehend bleiben. Auf selten dezente Art nähert er sich zugleich der Frage an, was Heimat ist, was sie ausmacht, was uns daran bindet und was uns manchmal davon forttreibt. In sehr eindringlichen Szenen wird deutlich, wie schmerzhaft und rabiat der Abschied von den Auswanderern gewesen sein muss, für die Daheimgebliebenen ein Abschied auf immer und für die Fortgehenden eine Reise ins Ungewisse. Ebenfalls wird sehr deutlich, warum diese Familien die Reise dennoch auf sich nahmen, ein Leben zurückließen, das immer unerträglicher wurde und das tatsächlich keine Perspektive anbot, keine Wahl, außer sich entweder ein für allemal zu fügen oder sein Glück anderswo zu suchen.
Selten sind solche Kinoerlebnisse allemal – was natürlich auch gut ist, sonst wären sie ja nichts besonderes mehr. Ein Film für die große Leinwand, ein Film für Genießer, die Zeit und Ruhe mitbringen, ein Film, der auf viele Weise auch aus der heutigen Zeit herausfällt. Was auch gut ist, denn davon haben wir ohnehin mehr als genug... (7.10.)