Jagten (Die Jagd) von Thomas Vinterberg. Dänemark/Schweden, 2012. Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Annika Wedderkopp, Lasse Fogelstrøm, Susse Wold, Anne Louise Hassing, Lars Ranthe
Die Dänen können das einfach: Stoffe, die schon x-mal in beliebigen TV-Produktionen verwurstet und versemmelt wurden, so zu gestalten, dass plötzlich großartiges Kino draus wird. Familiendramen, Schuld-und-Sühne-Dramen, Dramen auf Leben und Tod, immer sind es die ganz essentiellen Themen, unter denen normalerweise jeder Film todsicher in die Knie gehen würde – aber nicht die Dänen! Schwer zu sagen, wie genau sie das eigentlich machen, was ihr Geheimnis ist. Tatsache ist aber, dass sie ihre Geschichten gleichzeitig vollkommen ernst nehmen, keiner unbequemen Komplexität aus dem Wege gehen, und sie dennoch so erzählen, dass auch wir Zuschauer nicht völlig erschlagen und gelähmt aus dem Kino wanken, wie das beispielsweise nach einigen Michael-Haneke-Filmen der Fall ist.
Ein Mann gerät in den Verdacht, ein kleines Mädchen sexuell missbraucht zu haben. Er ist unschuldig, und daran wird von Anfang an kein Zweifel gelassen, das ist auch nicht die Frage. Die Frage ist, wie seine Umgebung reagiert. Eine Kleinstadt, eine kleine Gemeinschaft, zu der er schon immer gehört hat wie auch seine Vorfahren, in die er ganz selbstverständlich fest integriert ist, einschließlich der üblichen Männlichkeitsrituale, in diesem Fall die Jagd. Man ist sich nahe, hat Vertrauen, geht frei und ungezwungen miteinander um. Der Mann nimmt die Tochter seines besten Freundes mit zum Kindergarten, in dem er arbeitet, nachdem sein ursprünglicher Arbeitsplatz, die örtliche Schule, schließen musste. Und plötzlich behauptet jenes kleine Mädchen, er habe ihr seinen Pillermann gezeigt, und unaufhaltsam setzt sich ein Mechanismus in Gang, der die ganze Gemeinschaft einfach mitreißt. Das Schlagwort „Missbrauch“ lässt bei der Leiterin des Kindergartens sofort sämtliche Alarmsirenen heulen, und ohne dem Beschuldigten die kleinste Chance zu geben, sich zu verteidigen oder auch nur Stellung zu nehmen, informiert sie alle Eltern, informiert sie auch seine geschiedene Frau, um darauf hinzuwirken, dass der gemeinsame Sohn den Wochenendvater nicht mehr besuchen soll. Alles geht rasend schnell: Lucas wird angeprangert, ausgegrenzt, angegriffen, verprügelt, ihm bleibent nur sein Sohn und ein guter Freund, die zu ihm halten, von seiner Unschuld überzeugt sind.
Vinterberg macht einige Dinge sofort klar: Kindesmissbrauch ist keine Bagatelle, nichts, was sich auch nur irgendwie verharmlosen ließe. Und: Die Leiterin handelt natürlich aus gutem Glauben, sie ist überzeugt davon, dass Kinder niemals lügen und dass sie nun zum Schutz aller ihr anvertrauten Kinder agieren muss. Volle Aufklärung, sofortiges, rasches Durchgreifen. Ein „Psychologe“ erscheint, stellt der kleinen Klara noch mal einige Fragen, die jedoch sämtlich nur in die eine Richtung weisen, nämlich dass sie die Wahrheit gesagt hat und dass Lucas sie missbraucht hat. Eine beklemmend starke Szene, die deutlich zeigt, wie aus bestem Willen die pure Manipulation erwachsen kann. Zu diesem Zeitpunkt ist die Eskalation nicht mehr aufzuhalten, Lucas ist schuldig, Klara das Opfer. Dieser Film stellt sich entschieden gegen diese übliche Konstellation, ohne Klara damit gleich zur Täterin zu machen, denn sie ist auch nur ein verwirrtes Mädchen, das ein paar dumme Sprüche ihres älteren Bruder und den ständigen Ehestreit zuhause aufschnappt, Zuflucht bei dem netten, ruhigen Lucas sucht und nun enttäuscht ist, weil er sie behutsam ein wenig auf Distanz halten möchte. Kein bösartiger Dämon also wie beispielsweise das intrigante Biest aus „Infam“, das ja viel größeres Unheil anrichtet. Lucas ist zunächst überrumpelt, überfordert, begreift nicht, was da im Gange ist, begreift nicht, dass sein ehemals bester Freund ihm nicht glaubt und dass er nicht mal mehr im örtlichen Supermarkt einkaufen darf. Die öffentliche Meinung ist ebenso radikal wie leicht beeinflussbar, bei einem Thema wie Missbrauch natürlich extrem sensibilisiert, was an sich gar nicht schlecht ist, was aber in diesem Fall zu einer katastrophalen Vorverurteilung führt, wobei sich offenbar niemand die Mühe macht, die Verhältnisse ein einziges Mal genauer zu untersuchen. Klara sagt mehrmals, sie habe eine Dummheit gemacht und etwas falsches erzählt, doch selbst ihre Mutter nimmt das nicht ernst, hat sich eine feste Meinung gebildet. Der Malstrom reißt fast alle mit, gelegentlich erschrickt der eine oder andere, wenn es gar zu hässlich wird, doch in der allgemeinen, öffentlich abgenickten Empörung gegen den Kinderschänder lässt es sich halt gut mitschwimmen. Erst ein langes Blickduell zwischen Lucas und Klaras Vater in der Kirche führt schließlich dazu, dass letzterer ins Nachdenken kommt, und so plötzlich wie die Jagd eröffnet wurde, wird sie scheinbar auch wieder eingestellt. Eine irritierende Sequenz, die ein halbes Jahr später angesetzt ist, erzählt davon. Lucas’ Sohn ist alt genug, in den Jagdverein aufgenommen zu werden, selbst sein erstes Gewehr zu bekommen. Ein Initiationsritus, auf den Hemingway stolz wäre, und der in dieser Gemeinschaft viel Gewicht hat. Lucas ist wieder mitten drin, sein Blick noch etwas unsicher, doch er zeigt sich mit seiner neuen Freundin, wird allerseits herzlich begrüßt, und scheinbar ist alles vergeben und vergessen. Und gerade als man denkt, dass selbst Männer nicht in der Lage sind, so total zu verdrängen, fällt während der Jagd ein Schuss und verfehlt Lucas nur knapp. Der Schütze bleibt unerkannt, aber es ist egal, wer er ist. Lucas weiß, dass nichts vergessen ist, dass unter der bierseligen Oberfläche der Männerkumpanei noch immer Hass und Misstrauen warten.
Diese letzte Volte war für mich ein wichtiger Schluss punkt, denn es wäre wohl nur schwer erträglich gewesen, diese Truppe miteinander saufen und feiern zu sehen, so als ob nie etwas geschehen wäre. Dennoch wirft die Szene ein sehr bezeichnendes Licht sowohl auf die Gemeinschaft als auch auf Lucas, der scheinbar gar nicht auf die Idee gekommen, ist, nach dieser schrecklichen Erfahrung fortzugehen, der sich weiterhin als zugehörig betrachtet oder betrachten möchte und der genau wie all die anderen verdrängt, was ein halbes Jahr zuvor mit ihnen passiert ist. So als gäbe es keine Alternative bleibt man zusammen, weiterhin miteinander verbunden und verstrickt, und es gehört wenig Phantasie dazu sich vorzustellen, dass etwas Ähnliches jederzeit aus jedem Anlass wieder geschehen könnte.
Vinterberg hat das Drama mit enormer Dichte, Ruhe und Intensität erzählt. Zwei Stunden nimmt er sich Zeit, die Mechanismen dieser kleinen Gesellschaft vorzustellen, Lucas’ Platz darin ebenso so sorgfältig zu beschreiben wie den dramatischen Wandel hin zu Aggression und Gewalt. Hier ist kein plattes Melodrama vonnöten, keine störende Effekthascherei, kein pädagogischer Gestus, der uns dummen Zuschauern den Weg weisen muss. Alle Beteiligten werden ernst genommen, auch die Haltung von Klaras Eltern an sich ist zunächst verständlich, denn die Panik, dass ihre Tochter möglicherweise missbraucht wurde, setzt mit Sicherheit ein vernunftbezogenes, besonnenes Vorgehen vorübergehend außer Kraft, genau wie bei Grethe, der Kindergartenleiterin. Dieser Film will ein Thema wie sexuellen Missbrauch nicht verharmlosen, er zeigt lediglich, was passieren kann, wenn nicht miteinander geredet wird, wenn sich niemand bemüht, trotz der scheinbar offensichtlichen Sachlage sorgfältig und unvoreingenommen zu recherchieren.
Ein meisterhaft inszenierter und gespielter Film, mit dem sich Vinterberg nach einer höllisch langen Durststrecke endlich mal wieder auf ganz hohem Niveau zu Wort meldet, denn nach seinem ersten Meisterwerk „Das Fest“ sind etliche Jahre vergangen, und außer einiger eigenartiger Werke, die sich nirgendwo richtig verorten lassen, ist danach nichts rechtes von ihm gekommen. Dogma gehört zwar der Vergangenheit an, Vinterberg hat mit „Die Jagd“ aber nachdrücklich bewiesen, dass er es noch kann, egal in welchem Stil. (2.4.)