La réligieuse (Die Nonne) von Guillaume Nicloux. Frankreich/BRD/Belgien, 2012. Pauline Étienne, Isabelle Huppert, Louise Bourgoin, Martina Gedeck, Françoise Lebrun, Agathe Bonitzer, Alice de Lencquesaing, François Négret, Lou Castel, Marc Barbé, Gilles Cohen
Mehr als fünfundvierzig Jahre nach Jacques Rivettes meisterhafter Filmversion des großartigen Romans von Denis Diderot, und wie haben sich die Zeiten geändert seit dem Mittelalter: In den 60ern großes Tamtam, Aufruhr, Skandal, Empörung, Verbote. Und heute? Wohlwollende Besprechungen überall, sogar von den katholischen Tugendwächtern, gefeierte Auftritte auf den einschlägigen Festivals, und selbst die Heilige Katholische Kirche reagiert vermutlich gelassen. Ein Zeichen für größere Liberalität und Souveränität im Umgang mit Inhalten und Meinungen, oder nur ein Zeichen für den großen Schwamm der Gleichgültigkeit, der alles und jeden aufsaugt? Vielleicht lag’s auch mit an der Besetzung – Kohliesls Tochter als lesbische Nonne? Krass, Alter! Während man von der Huppert schon gar nicht anderes mehr erwartet. Fragen über Fragen...
All dies außen vor gelassen bleibt die Feststellung, dass dies eine sehr sorgfältige, großartig gefilmte und gespielte Verfilmung ist, die für meinen Geschmack einen noch viel stärkeren und bewussteren inhaltlichen Akzent setzt als seinerzeit Rivette, der zudem die Bemühungen der Suzanne Simonin in einer auch außerhalb der Klöster nicht abreißenden Kette von Erniedrigungen und schließlich im Freitod enden ließ, während hier eine zwar trauernde und sicherlich tief verstörte junge Frau offen in die Zukunft sieht, die unsicher bleiben wird, ihr aber zumindest theoretisch die Möglichkeit eröffnet, sich ihren Vorstellungen entsprechend zu entwickeln. Durch seine sehr konzentrierte, dichte, stilistisch eindrucksvoll konsequente Inszenierung hebt Nicloux die wesentlichen, elementaren Themen hervor, die Diderot vor zweihundertfünfzig Jahren beschäftigten: Freiheit, Würde, Toleranz im Abgrenzung zu Unterdrückung, Dogmatismus und Heuchelei. Suzanne Simonin gerät als Nonne wider Willen in drei Systeme, die sie auf jeweils unterschiedliche Art in eine ungewollte und letztlich destruktive Abhängigkeit zwingen. Die Nähe und Fürsorge der alten, zutiefst frommen Oberin wirkt zunächst beschützend und bestärkend, weckt in Suzanne aber auch die trügerische Hoffnung, dass es doch einen Ausweg aus dem von ihrer Familie für sie vorgesehenen Schicksal gibt, erzeugt den Anschein von Geborgenheit und Schutz. Das Regime der Nachfolgerin ist dagegen ganz offen autoritär, grausam und unmenschlich, unterwirft Suzanne schlimmer körperlicher und seelischer Demütigungen und ähnelt eher den Strukturen einer Militärdiktatur als eines kirchlichen Ordens. Im dritten Fall schließlich gerät Suzanne in ein System psychischer und sexueller Abhängigkeit und Ausbeutung – die Oberin bindet sie zunächst durch Bevorzugung und offene Zuneigung, nähert sich ihr schließlich auch sexuell und sorgt dafür, dass Suzanne erneut in eine Außenseiterrolle als Günstling der Oberin gedrängt wird. Was schon bei Diderot sehr akribisch durchexerziert wird als eine Parade verschiedener Formen der Unterdrückung, behält auch noch in Nicloux’ Filmversion eine klare Struktur. Hier werden Systeme einander gegenüber gestellt, und die oberflächlich gesehen vielleicht besonders brisante Tatsache, das ausgerechnet Klöster als Schauplatz dieser Ereignisse dienen, sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass es auf abstrakterer Ebene um mehr, um allgemeineres geht. In ihrer Entschlossenheit und Unermüdlichkeit, die bis hart an den Rand der Selbstaufgabe reicht, verkörpert Suzanne das menschliche Streben nach Freiheit, das immer eine der großen Triebfedern menschlichen Strebens überhaupt war. Der Drang, sich von dem zu lösen, was Zwang ausübt, was einengt, was unfrei macht, entwickelt eine enorme Dynamik, die am Beispiel der jungen Nonne mit faszinierender Kompromisslosigkeit vorgeführt wird. Weder physische noch psychische Repressalien oder Torturen können das Mädchen von ihrem Weg abbringen, weder unbarmherzige Erpressung noch die nicht weniger perfide Strategie, über Zuneigung und persönliche Vergünstigung einen Menschen in Abhängigkeit zu bringen. Natürlich gewinnt Diderots Erzählung eine besondere Sprengkraft aus dem Kontrast zwischen der asketischen Disziplin der täglichen Klosterroutine und dem, was sich hinter den Mauern und zwischen den Nonnen abspielt und was sich im Prinzip nur wenig vom ganz normalen weltlichen geschehen unterscheidet. Eifersucht, Rangkämpfe, Dominanz und Unterwerfung, häufig durchaus mit sexueller Konnotation – alles ganz normal, wie draußen auch. Wirklich skandalös daran ist die Diskrepanz zwischen dem vermeintlich hehren christlichen Anspruch und einer Realität, die in vieler Hinsicht von erbärmlicher Banalität ist. Von dieser Diskrepanz ist gerade momentan wieder akut die Rede, und ich persönlich, der ich bei einem kirchlichen Träger mein Brot verdiene, kann hauptamtlich bestätigen: Jawoll, genau so isses! Mit Heine gesprochen: Sie trinken heimlich Wein und predigen öffentlich Wasser. Aber das führt jetzt wohl zu weit...
Anders als Rivette macht Nicloux aus seiner Suzanne keine Märtyrerin im herkömmlichen Sinne. Sie lebt am Schluss, ihr Blick ist gezeichnet, doch er ist nach vorn gerichtet, ein völlig anderes Signal also als der tragische und bittere Freitod Suzannes bei Rivette. In Pauline Étiennes großartiger Interpretation liegt aber diese Stärke auch schon begründet, anders als im letztlich vergeblichen Leiden der Nouvelle-Vague-Ikone Anna Karina damals. Durch diese deutliche Akzentverschiebung ist unser Blick auf diese Person freier, neugieriger, ohne dass sich dieser neuere film vorwerfen lassen müsste, er sei vielleicht unpolitischer als der ältere. Er entstand einfach zu einer anderen Zeit, und das er sich gewissen Notwendigkeiten nicht mehr unterwerfen muss, ist auch schon bezeichnend genug. Manchmal lohnt es sich wirklich, einen Stoff ein paar Jahrzehnte später nochmal anzugehen, um dann vergleichen zu können, wie die Filme in ihrer jeweiligen Zeit zu verorten sind. Aber das führt jetzt wohl auch zu weit... (6.11.)