Après Mai (Die wilde Zeit) von Olivier Assayas. Frankreich, 2012. Clément Métayer, Lola Créton, Carole Combes, Félix Armand, India Salvor Menuez, Hugo Conzelmann, Mathias Renou
Anfang 1971 war der Mai ’68 zweieinhalb Jahre her, und während sich ein größerer Teil der Leute längst in Richtung Mainstream auf den Weg gemacht haben, sind doch einige geblieben, die Ideale und Attitüde jener Zeit konserviert und radikalisiert haben. Es gibt Zeitungen, Aktionen, Demos, Sprayattacken und heftige Konfrontationen mit den Ordnungshüter, die sich ihrerseits auch einer deutlich härteren Gangart befleißigen. Die berüchtigte Schlägerei auf der Place de Clichy im Februar legt Zeugnis davon ab – rücksichtslos knüppeln die vermummten Angehörigen der CRS-Brigaden auf die jungen Demonstranten ein, lassen lang aufgestaute Aggressionen an den linken Zecken mal so richtig aus. Diese revanchieren sich mit gezielten Angriffen auf einzelne Sicherheitsschergen, jeder tut eben das seine, um die Eskalation auf jeden Fall voran zu bringen.
Assayas begleitet eine Handvoll befreundeter Schüler, die sämtlich am Rande der großen Entscheidung stehen, wie es weiter gehen soll. Studium, Selbstfindungstrip gen Osten, Flucht vor den Autoritäten nach Italien, oder gleich die freie Kunst. Gilles ist ein eher ruhiger, blasser Typ, der zwar bei einigen Aktionen mitmacht, aber kein Parolenbrüller aus der ersten Reihe ist. Er möchte malen, liebt ein Mädchen und möchte gleichzeitig irgendwie dabei sein. Ein wenig ratlos pendelt er zwischen Menschen und Orten, malt ein bisschen, liebt ein bisschen, sucht ganz viel und erkennt am Schluss, dass er dem wahren Leben nie die Türe geöffnet hat. Dann, nachdem er ein weiteres Mal das Mädchen, das er liebt, ziehen ließ, geht’s weiter nach London, das Filmhandwerk zu erlernen. Wie viel Assayas konkret in Gilles steckt, bleibt spekulativ, spielt aber auch keine große Rolle. Der Film ist dermaßen eindringlich, intensiv, mitreißend, als wäre Assayas persönlich dabei gewesen, statt nur als 16-jähriger am Rande dieser Ereignisse gelebt zu haben. „Après Mai“ ist das faszinierende Porträt einer Generation und einer Zeit, die von einer frappierenden Paradoxie geprägt wurden: Einerseits standen alle Zeichen auf Befreiung, auf Jugendrevolte, auf Aufbruch zu ganz neuen, alternativen Lebensformen, andererseits herrschte ein fast diktatorischer Dogmatismus, der jede wirkliche Freiheit sofort im Keim erstickte. Nicht die reaktionären Autoritäten, die mit Zähnen und Klauen ihre Pfründe zu verteidigen suchten, sondern ausgerechnet sie selbsternannten Revolutionäre, die die Gesellschaft doch eigentlich vom Muff von tausend Jahren befreien wollten, schwangen sich zu rigiden Zensoren und Wächtern der vermeintlich fortschrittlichen Bewegung auf. Fortan stand jedes Detail im Zeichen der Ideologie, was man anzog, was man aß, was man hörte und las, selbst wie man sprach – alles war politisch, alles ein Statement, entweder reaktionär oder revolutionär. Kritik an den Helden der Linken, am Genossen Mao etwa, war total tabu, und wer beispielsweise ein Buch las, das sich kritisch mit der „Kulturrevolution“ auseinander setzte und die verheerenden Massaker in China thematisierte, machte sich höchst verdächtig. Filme mussten agitieren, Musik musste eine Botschaft verkünden, und wer etwa aus einem bürgerlichem Elternhaus kam, wurde per se argwöhnisch beäugt. Das ganze Gegenteil von Freiheit also, Gruppenzwang und Gesinnungsdruck allerorten, und ein Schluffi wie Gilles wird immer wieder fast gegen seinen Willen in Turbulenzen und Rechtfertigungsnot gebracht. Auf dem Weg durch Italien seilt er sich beizeiten von der Gruppe ab, weil er das Gefühl hat, nicht dazu zu gehören, mit den diffusen Revoluzzersprüchen seiner ersten Freundin kann er ebenso wenig anfangen, weshalb er auch nicht bereit ist, ihr nach England zu folgen oder in irgendeiner obskuren Kommune zu leben. Bei Diskussionen oder auch Raufereien ist er nie in der ersten Reihe zu finden, und wenn er zwischendurch einem Freund bekennt, er habe Angst, seine Jugend zu versäumen, ist dies eine ebenso paradoxe wie vielsagende Feststellung. Denn wenn Jugend für Ausprobieren, Suchen und tatsächlich Freiheit steht, dann war all dies unter diesen Umständen nicht möglich, denn ein Dogma ist immer zugleich der Feind der Freiheit.
Assayas muss diese Überlegungen nicht in Form langwieriger Exkurse in den Film integrieren. Sein zugleich lockerer und konzentrierter, unspektakulärer und doch hoch intensiver Erzählstil ermöglicht es ihm, vieles fast nebenbei zu zeigen und zu sagen, ohne dass alles und jedes explizit ausgesprochen zu werden braucht. Es genügt vollkommen, Gilles und seine Freunde und Freundinnen auf ihren unterschiedlichen Wegen und Irrwegen hin zur Selbsterfüllung oder zur totalen politischen Aktion zu zeigen, ob in Paris, der Toskana, Afghanistan oder London. Mit dabei sind Drogen, Plakate und Musik, die sogenannte freie Liebe wird zwischendurch auch noch konsumiert, doch insgeheim suchen sie alle doch nur nach Orientierung und einem Platz in der Zukunft, so wie jede andere Generation wohl auch. Die bittere Erkenntnis: Nach den ganzen Repressalien der 50er und 60er bieten die 68er eben nicht die erhoffte und auch nötige Befreiung, sie ersetzen nur ein Dogma durch ein anderes, egal, wie es gefärbt sein mag. Assayas enthält sich jeglicher Nostalgie (außer vielleicht im Soundtrack), er verurteilt nicht, er polemisiert nicht, bleibt durchaus ein bisschen auf Distanz und zeigt kein Interesse, die Lebenswege der Personen über den Moment hinaus zu verfolgen. Was aus ihnen wird, wäre sicherlich Stoff für einen weiteren Film, was sie im Moment bewegt und prägt, was sie antreibt oder hindert, das ist Gegenstand diese zwei Stunden, die im Flug vergehen und in jedem Moment aufregend und einsichtsvoll sind. Zu dem gänzlich unpathetischen Ton passt auch das Spiel der Laiendarsteller, die eine perfekt Verkörperung dieser Generation anbieten und es genau wie der Regisseur schaffen, Klischees zu meiden.
Was mich neben alledem natürlich auch noch glücklich gemacht hat, ist die Musik, die das Geschehen begleitet und die mich Ton für Ton daran erinnert, dass dies wirklich meine Lieblingsphase ist, dass Musik aus dem späten 60ern und frühen 70ern einfach toll ist. Bei Amazing Blondel musste ich laut mitsingen (gut, dass ich allein im Saale war...), und wie lange habe ich schon nicht mehr zu hoffen gewagt, jemals Songs meiner größten Helden wie der ISB oder Robin Williamson im Kino zu vernehmen. Und so geht einem dummen alten Nostalgiker wie mir dann doch das Herz auf, obwohl ich nicht abstreiten könnte, dass Assayas vielleicht auch ein wenig davon in sich trägt.
Sei’s drum, dies ist ganz großes französisches Kino, das an beste Traditionen anknüpft und das nach „Carlos“ eindrucksvoll unterstreicht, wie brillant es Assayas versteht, Zeitgeschichte so umzusetzen, das es einerseits nicht nach Schulfernsehen ausschaut und andererseits auch nicht nach Popcornkram. Davon gerne mehr! (4.6.)