Exit Marrakech von Caroline Link. BRD, 2013. Samuel Schneider, Ulrich Tukur, Hafsia Herzi, Marie-Lou Sellem, Josef Bierbichler

   Die Short Stories von Paul Bowles werden nicht umsonst mehrfach beim Namen genannt in dieser Geschichte – noch immer scheint der Maghreb ein geradezu mythischer Ort für westlicher Selbstfindung bzw. –suche zu sein, noch immer lockt magisch die Mischung aus archaischer Kultur, faszinierender Exotik und bewusstseinserweiternden Substanzen, und noch immer müssen unsere selbstsuchenden (und vor allem selbstsüchtigen!) europäischen Protagonisten zumindest eine existentielle Prüfung durchmachen, um am Ende vielleicht einen kleinen Schritt vorangekommen zu sein.

   Ben, ein chronisch unterforderter Internatsschnösel aus zerbrochenem Elternhaus, reist in den Sommerferien zu seinem Vater, einem Theatermacher, der in Marokko deutsche Klassik zelebriert. Von seinem Internatsleiter kriegt er den dringlichen Auftrag, endlich mal was zu erleben, endlich was aus sich zu machen und seinen Horizont zu erweitern. Von seiner Mama, wie der Papa eine ausgemacht egozentrische Künstlerin, kriegt er den Auftrag, sich mit dem lang nicht gesehenen Vater zu vertragen und auch immer seine Medikamente griffbereit zu haben, denn er ist insulinspitzender Diabetiker. Sich selbst gibt er eigentlich keinen Auftrag, denn von Anfang weiß er nicht so recht, was er mit sich und der Situation in Marrakesch anfangen soll, zumal Paps wie erwartet mehr mit sich und seinem Theater beschäftigt ist und das Leben im Hotel einem klaustrophobischen goldenen Käfig gleicht. Er lernt Karima kennen, die in den Bars der Altstadt als Prostituierte ihr Geld verdient und entschließt sich spontan, mit ihr zu reisen, als sie per Bus zu ihren Eltern weit raus in ihr Heimatdorf fährt. Welche Komplikationen er damit erzeugt, kann er unmöglich überblicken, in welche Gefahr er sich und seinen Vater zwischenzeitlich bringt, noch weniger, am Ende aber trifft vielleicht eine neu gefundene Patchworkfamilie am Atlantikstrand zusammen, und man sieht ein seltenes Lächeln auf Bens Gesicht.

   Caroline Link wählt fast immer Menschen aus einem Milieu, das mir nicht gerade sehr nahe steht, weswegen ich zumeist Schwierigkeiten habe, zu ihren Figuren eine gefühlsmäßige Bindung zu kriegen. Was interessieren mich schon die Seelenblähungen von Theaterregisseuren, Konzertcellistinnen oder ihren verzogenen, blasierten Kids? Aber: Caroline Link kann mit Bildern und treffenden Details sehr gut Geschichten erzählen, und das interessiert mich dann schon mehr, hilft mir in ihren besseren Filmen über das oben erwähnte Hindernis hinweg. Auch diesmal gelingt das ganz gut, weil Link zusätzlich imstande ist, ihre Figuren sperrig und eigensinnig genug zu zeichnen, dass für ausreichend Spannung gesorgt ist. In diesem Fall trifft der siebzehnjährige Sohn auf den Vater, und natürlich geht einiges von dem ab, was zwischen Vätern und Söhnen halt immer abgeht – das ungeschickte und weitgehend missglückte Aufeinanderzugehen, das Abtasten, die todsicher fehlschlagenden Versuche, irgendein Gespräch in Gang zu kriegen, einfach die fehlende Übung im Miteinander. Dann der alternde Platzhirsch gegen den aufbegehrenden Jüngling, der eine, der sich viel auf seine Erfahrung zugute hält, gegen den anderen, der genau dagegen opponiert und lieber seine eigenen Erfahrungen machen will. Der Alte, der ständig zweierlei Maß anlegt, gegen den Jungen, der noch gar kein Maß hat. Dieses direkte sich messen, sich aneinander reiben, sich auch mal ganz offen zoffen, findet hier sehr selten statt, da Ben vorzugsweise flieht und Papa Heinrich sich vorzugsweise im Theater versteckt, weil er natürlich auch nicht weiß, wie er mit seinem Sohn umgehen soll. Bens Ausflug in die Wüste scheitert grotesk, bricht aber andererseits auch das starre Aneinandervorbeileben der beiden auf. Heinrich muss sich wohl oder übel auf den Weg machen, muss sein Planung schmeißen, muss endlich anderer Prioritäten setzen, so wie sein Sohn es auch von ihm gefordert hatte, und siehe da, es bewegt sich was, die beiden kommen sich tatsächlich näher, wenn das auch alles andere als konfliktfrei abläuft.

   Die Reise als Metapher für die immer Reise ist im Film gern und häufig verwendet worden, und Link gewinnt dem auch nichts neues ab, doch indem sie sich sehr auf Land und Leute einlässt, schafft sie eine Direktheit und Authentizität, die über so manche etwas lieblose und schematische Personenzeichnung am Rand hinweghilft. Vor allem Bens Aufeinandertreffen mit Karima ist eindrucksvoll inszeniert und gespielt, mehr als nur der Clash zweier denkbar unterschiedlicher Kulturen, nämlich für Ben die Brücke ins Erwachsensein und zugleich eine dramatische Erweiterung seiner Perspektive. Karima ist eine junge Frau, die aus dem Dorf in die Stadt geht, dort mit Männern schläft und alles Geld zurück ins Dorf schickt. Ihre Leute dort wollen nicht wissen, womit sie das Geld verdient, sie brauchen es einfach. Ihr Vater und Bruder versuchen, sie nach traditionellem Rollenverständnis  zu behandeln, und werden von ihr eines besseren belehrt: Sie ist es, die das Geld verdient, die die Familie durchbringt, weswegen niemand mehr das Recht hat, sie zu schlagen und über ihr Leben zu bestimmen. Ben kapiert von alledem zunächst höchstens die Hälfte, später aber sieht man, dass er gelernt hat, die Leute zu respektieren und anders auf sie zuzugehen, wo Heinrich noch immer seine kulturelle Distanz betont und sich auf das Land sowieso nie so recht einlassen wollte, weil es seiner feststehenden Meinung nach längst kaputt ist. Neben der Initiationsgeschichte und der Vater-Sohn-Kiste gibt’s also auch ein gehöriges Stück Afrika-Europa, und darin liegt eine Menge Zündstoff, ohne dass Link dies etwa spekulativ ausnutzen würde. Mit dem erwähnt scharfen Blick für Kleinigkeiten weist sie immer wieder darauf hin, dass die Ausbeutung mittlerweile in beide Richtungen funktioniert, und dass Abfälligkeiten, Vorurteile und alteingesessene Feindseligkeiten keineswegs bedeuten müssen, dass man auf der anderen Seite nicht prima Geschäfte miteinander machen kann.

 

   So hält der glänzend fotografierte und gespielte Film das Interesse auf gleichbleibend hohem Niveau, plustert sich als Drama nicht zu stark auf, fällt auch nie ins Seichte oder allzu Gefällige ab. Und wenn die Link irgendwann mal ihre ewigen Kunstschaffenden weglassen könnte, wäre vielleicht auch mal ein wenig Identifikation möglich. (28.10.)