Inuk von Mike Magidson. Grönland/Frankreich, 2010. Gaba Petersen, Ole Jørgen Hammeken, Rebekka Jørgensen, Sara Lyberth, Elisabeth Skade, Inunnguaq Jeremiassen
Ein filmisches Denkmal für eine weitere, kurz vor dem Sterben befindliche Kultur? Oder vielleicht ein Hoffnungs- und Lebenszeichen, das Mut machen und auf die Möglichkeit einer Zukunft hindeuten soll? Egal was, die Fakten jedenfalls hören sich nicht besonders mutmachend an: Verstädterung, Entfremdung, Verlust von Identität, Kultur, Lebensform, Traditionen, viel Wandel aber keine Perspektive, stattdessen viel Alkohol und viel Gewalt. Die Hauptstadt heißt Nuuk, hat nicht mehr als eine Handvoll Leute und sieht aus wie ein sehr trostloses, vornehmlich aus noch trostloseren Sozialbauten bestehendes Kaff, das vor allem den jungen Einwohnern rein gar nichts zu bieten hat. Und das genau ist das Problem.
Inuk weiß ein Lied davon zu singen: Der Vater, ein respektierter Eisbärjäger, bricht ins Eis und verschwindet, die Mutter fängt das Trinken an, und Jahre später wird der halbwüchsige Sohn von den prügelnden Saufkumpanen immer häufiger raus auf die Straße vertrieben. Bis eines Tages das Jugendamt einschreitet und Inuk in ein Kinderheim hoch im Norden kommt. Dort lebt eine kleine Gruppe Jugendlicher, die alle eine ähnliche Geschichte wie er hinter sich haben und nun versuchen, zu sich selbst zu finden. Die Leiterin des Hauses übererdet ein paar erfahrene Robbenjäger, die Kinder mit auf Tour zu nehmen, und alle zusammen brechen zu einer langen und für Inuk sehr bedeutsamen Fahrt auf, denn unterwegs lernt er das Land, das Leben darin, die Geschichte seiner Einwohner, seiner eigenen Eltern und letztlich auch sich selbst neu kennen. Der Jäger Ikuma nimmt sich seiner an, widerstrebend zunächst, denn auch er hat seine Vergangenheit in Sachen Alkohol und Zerstörung einer Familie, aber schließlich können beide voneinander lernen. Ikuma zitiert einen alten Schamanen und spricht damit die zentralen Sätze des Films: Leben heißt, als du selbst zu existieren, aber auch als Teil der Welt, die dich umgibt. Was aber geschieht, wenn es diese Welt plötzlich nicht mehr gibt?
Eine Initiationsgeschichte, eine Selbstfindungsgeschichte, meinetwegen auch beides zusammen, jedenfalls eine fundamentale Geschichte über ein Volk, das kurz vor seiner Auflösung zu stehen scheint. Die Kluft zwischen den Alten, die noch ganz der traditionellen Lebensweise verhaftet sind, die Umbrüche nicht verkraften und in hochprozentiger Lethargie versacken, und den Jungen, die lieber Anschluss an das sogenannte „moderne“ Leben finden und der grauenvollen Enge und Ödnis daheim entfliehen möchten, sind unüberbrückbar. Wenige Bilder aus der Hauptstadt reichen aus, um klarzumachen, dass Kids von heute hier nie und nimmer leben wollen. Aber was ist die Alternative, wenn man Massenflucht mal ausklammert? In diesem Film wird die Besinnung auf sich selbst und die eigenen Wurzeln vorgeschlagen. Jagd ist ein gern und häufig verwendetes Symbol, gerade im kernigen Ernest-Hemingway-Machoumfeld, hier aber berührt es eine ganz existentielle Lebensgrundlage der Inuit, die aufgrund der natürlichen Gegebenheiten nun mal ausschließlich von der Jagd leben können. Dazu müssen sie das Land kennen, müssen das Wetter und die Zeichen erkennen, müssen die Tiere kennen und sie respektieren- Natürlich stehen auch die Jäger dort oben heutzutage fatal auf der Kippe – Klimawandel, irgendwelche Fangquoten von irgendwelchen Bürokraten und die Regelungen der Weltwirtschaft führen zu einer massiven Bedrohung ihrer weiteren Existenz. Das wird hier nicht schön geredet, dennoch werden Leute gezeigt, die immer noch und weiterhin so leben, weil sie es wollen, oder weil ihnen nichts anderes übrig bleibt. Das heißt: Man kann berechtigt in Resignation versinken, wird aber nur sich selbst und die Nächsten kaputt machen, oder man kann Stolz und Identität bewahren und versuchen, das beste draus zu machen. Hört sich für uns Coolcats sicher ziemlich simpel und banal an, aber nicht alle haben eben solch komplexe, tiefgründige Probleme wie wir Kulturnationen...
Der Film bewirkt, dass man mal wieder im Internet kramt oder sich sonstwie für eine abgelegene Region wie Grönland interessiert, dass man sich daran erinnert, welch dramatische Entwicklungen in solchen Ländern vor sich gehen, die von der sogenannten „Modernisierung“ ganz anders getroffen wurden als unsereiner. Außerdem ist der Film spannend und gut erzählt, er entführt für anderthalb Stunden weit weg in eine ganz andere Welt. Und vor allem: Er zeigt Bilder, die man lang schon nicht mehr im Kino sah, und wohl auch lange nicht mehr sehen wird. Ich meine, gegen die buchstäbliche Erhabenheit der Landschaft dort oben ist unser mickriges Mitteleuropa doch ein Scheißdreck, weshalb es ja auch so ungeheuer zynisch erscheint, dass ausgerechnet wir (unter anderem!) so eifrig dran arbeiten, dass es diese Landschaft über kurz oder lang nicht mehr geben wird. Aber nun gut – es ist nur ein Zynismus unter vielen... (13.2.)