Jeune & jolie (Jung & schön) von François Ozon. Frankreich, 2013. Marine Vacth, Géraldine Pailhas, Frédéric Pierrot, Johan Leysen, Fantin Ravat, Nathalie Richard, Laurent Delbecque, Charlotte Rampling
Die beiden Attribute treffen zweifellos zu, man könnte gut und gern noch andere hinzufügen: Rätselhaft, verwirrt, suchend, neugierig, so in dieser Richtung. Tatsache ist jedenfalls, dass drei Väter von Töchtern den Film gewiss mit ihren ganz eigenen Gedanken gesehen haben, ungefähr zwischen Hoffen und Bangen (ich hab’s halbwegs hinter mir, meine beiden Mitstreiter noch vor sich bzw. sind mittendrin!), was dem Abend schon mal einen pikanten Beigeschmack gab.
Ganz ohne Beigeschmack betrachtet ist dieser neue Ozonfilm glänzend: Die Geschichte der jungen Isabelle, die sich kurz vor ihrem 17. am Strand im Süden von einer deutschen Urlaubsbekanntschaft entjungfern lässt, dabei aber nicht gerade besonders viel Spaß hat, die dann zuhause in Paris von einem Mann angesprochen wird und so eher zufällig auf die Idee kommt, für viel Geld mit Männern zu schlafen, eine Art Doppelleben anzufangen. Nachdem einer ihrer Kunden an Herzschwäche gestorben ist, fliegt die ganze Sache auf, es gibt zuhause natürlich ein Riesendrama, doch so recht kommt niemand an Isabelle heran. Am Schluss lässt sie sich noch einmal von einem Telefonanruf in ihr Stammhotel locken und trifft auf die Ehefrau des besagten verstorbenen Kunden. Das Treffen verläuft entgegen ihrer Befürchtungen friedlich, und sie hat nun die Wahl, sich von diesem Teil ihres Lebens zu verabschieden oder doch weiter zu machen.
Die Kernfrage ist natürlich: Warum? Was bewegt ein so schönes junges Mädchen, sich zu prostituieren, mit überwiegend älteren Männern in Hotelzimmern und Autos Sex zu haben? Ozon entwirft ein beunruhigend vieldeutiges Psychogramm, bietet mögliche Erklärungen an, ohne selbst in die eine oder andere Richtung zu neigen. Ist Isabelle ganz einfach neugierig, auf der Suche nach Kicks, Erfahrungen oder neuen Grenzen, ist sie auf der Suche nach sexueller Erfüllung, nach dem einen, der sie endlich aus der Kindheit herausholt und sie zur Frau macht? Einige in die Handlung eingespielte Chansons (Françoise Hardy mit wunderbar passend zartem Schmelz) scheinen ebenfalls Möglichkeiten und Interpretationen anzudeuten, doch letztlich bleibt Isabelle uns genauso undurchschaubar wie ihrer Mutter, die mal mit Autorität und Impulsivität und mal mit bemühter Einfühlsamkeit reagiert und der es bis zuletzt nicht gelingt, wieder Kontakt zu ihrer Tochter herzustellen. Äußerlich betrachtet bietet Isabelle das typische Bild des heranwachsenden Mädchens: Mal trotzig, mal zickig, abwechselnd herablassend, aggressiv oder verletzlich, zugänglich eigentlich nur für den kleineren Bruder, selbst auf dem Weg in die Pubertät und deshalb emsig bemüht, an den erotischen Erfahrungen der großen Schwestern teilhaben zu dürfen. Der Stiefvater ist nett, traut sich aber nicht so ganz, in den Konflikt einzusteigen, die Mutter, die selbst eine Liaison mit einem befreundeten Familienvater unterhält (und von Isabelle auch damit konfrontiert wird), ist überfordert und hilflos, weil sie ihrer Tochter nicht nahe kommt. Gleichaltriger eigenen sich bestenfalls als gute Freundinnen, doch die Jungs haben schlicht keine Chance, weshalb Isabelles halbherziger Versuch mit einem netten Typen aus ihrer Klasse auch bald im Sand verläuft. In einer besonders eindrucksvollen Szene sieht man sie auf einer Klassenfete (Riesenwohnung mit Blick auf den Étoile – Scheißbourgeoisie...), sieht sie von Raum zu Raum treiben, erkennt, dass sie absolut nicht mehr in diese Welt gehört, ihr für immer entwachsen ist, bereits in einer anderen Liga spielt, obwohl sie selbst nicht genau weiß, in welcher, weil sie sich zur Welt der „Großen“ auch noch nicht zugehörig fühlt. Hinter ihren kühlen, schönen Fassade spielt sich genau so viel Unsicherheit und Suche ab wie bei all ihren MitschülerInnen, nur hat sie einen eigenen, radikaleren Weg eingeschlagen. Erst der Tod des älteren Herrn durchbricht ihre scheinbar emotionslose, gleichgültige Attitüde, macht sie vorübergehend wieder zum kleinen Mädchen, doch irgendwann lockt dann die andere Welt doch wieder und sie aktiviert ihr „Geschäftshandy“ erneut, registriert mit befriedigtem Grinsen die vielen Nachfragen, die seit dem letzten Mal eingegangen sind.
Marine Vacth setzt das komplexe, vieldeutig angelegte Porträt eindrucksvoll und kongenial um, macht in ihrer Präsenz beide Pole der Isabelle deutlich, zum einen das suchende junge Mädchen, zum anderen die Prostituierte, die sich Blusen ihrer Mutter anzieht, ihr Gesicht überschminkt, eine andere Identität annimmt und in ihrem Wandschrank tausende von Euro anhäuft - auch hier erfährt man nicht, wofür das Geld gut sein soll, sie sammelt es lediglich, weil es wohl dazu gehört, sich für Sex bezahlen zu lassen. Ozon mixt in das sehr eindringliche Erotikdrama immer wieder sehr lebhafte und auch witzige Familienszenen, die an ganz andere, sehr typisch französische Filme über Familie, Ferien und Pubertät erinnern, und die das Ganze nicht nur wunderbar auflockern, sondern uns auch daran erinnern, dass es zwischendurch noch eine ganz andere Seite gibt.
Aber für uns Pappis? Nicht sehr tröstlich! Mit dem stillen Gebet, dass dieser und auch andere Kelche möglichst an uns vorübergehen mögen, genießen wir diesen Film, der sicherlich zu Ozons schönsten und besten gehört. (10.12.)