Kopfüber von Bernd Sahling. BRD, 2013. Marcel Hoffmann, Frieda-Anna Lehmann, Inka Friedrich, Claudius von Stolzmann, Jolina Simpson, Benjamin Seidel

   Sascha lebt mit zwei älteren Geschwistern und alleinerziehender Mutter im Plattenbau zu Jena. Er versucht, die fünfte Klasse zu schaffen, das ist aber nicht so leicht, denn er folgt dem Unterricht kaum, kann nicht lesen oder schreiben und fällt immer wieder durch heftige Ausraster auf. Außerdem klaut er gern mal im Supermarkt und verbringt sowieso am liebsten die Zeit mit dem Nachbarsmädchen von gegenüber, mit der er verbotene Orte aufsucht (Baustellen, alte Industriebrachen) und dort Tonaufnahmen macht, die sie später daheim am Computer zu Collagen montiert. Als die Mama einsieht, dass sie keinen Zugriff mehr auf Sascha hat, bekommt er einen sogenannten „Erziehungsbeistand“ zur Seite gestellt, Frank, mit dem er zunächst widerwillig viel Zeit verbringt. Eine Ärztin nimmt sich schließlich seiner an, stellt die Diagnose ADHS und verschreibt ihm Medikamente, die er fortan nach der Uhr einnehmen muss. Der Erfolg ist zunächst frappierend – Sascha ist urplötzlich viel konzentrierter und disziplinierter, seine Noten verbessern sich immens, er schafft entgegen aller Wahrscheinlichkeit sogar die Versetzung und er freundet sich ein bisschen mit Frank an. Aber er verändert sich auch in anderer Hinsicht, wird müde, ernst, introvertiert, irgendwie freudlos und entfernt sich sogar von seiner besten Freundin Elli. Am Schluss trifft er ganz allein eine Entscheidung: Er wird die Pillen nicht mehr nehmen, damit er wieder lachen und mit Elli auf Abenteuertour kann.

   Der Film hat viele Stärken: Die tollen Schauspieler, allen voran die jungen, die jederzeit total überzeugend, echt und natürlich wirken, die präzisen Impressionen aus dem Alltag im ostdeutschen Plattenbau mit allem, was dazugehört, und die schönen Bilder aus Jena und Umgebung, die trotzdem nie den Eindruck erwecken, dass hier irgendwas beschönigt werden soll. Die größte Stärke aber ist die Regie, ist genauer gesagt die enorme Unaufdringlichkeit, mit der die Menschen und ihre Themen geschildert werden. Die fast schon zur Mode gewordene Krankheit wird nie in den Vordergrund gestellt, wird auch nicht zum Gegenstand heftiger Dramen, denn es geht in erster Linie um das Individuum, um Sascha, seine Familie, seine Erfahrungen im Alltag zwischen Schule, Straße, Wohnung und darum, wie sich die Symptome auf sein Leben auswirken. Ein eigenwilliger, sperriger zehnjähriger Bursche, ein regelmäßiger Kunde  der Männer in Uniform und eine totale Überforderung für die Mutter, die eh alle Hände voll zu tun hat, die Kinder und sich durchzubringen. Es gibt Momente des Friedens, aber auch Momente tiefer Frustration und Aggression, und es gibt auch Hinweise darauf, dass Sascha mit Sicherheit ein wenig Struktur und Bindung fehlt, denn die Mutter ist viel unterwegs und die beiden älteren Geschwister fühlen sich auch nicht zuständig für den Kleinen. So etwas wie Harmonie erlebt man kurz an gemeinsamen Fernsehabenden oder vor allem auf den Ausflügen mit Elli, die Sascha immer die Gelegenheit geben, sich ein bisschen auszuprobieren. Mit der gleichen Unaufdringlichkeit werden dann die einschleichenden Nebenwirkungen der ADHS-Therapie geschildert, die zunehmenden Persönlichkeitsveränderungen des Jungen, die ihm vor allem von Elli vorgehalten werden, und auf ihren Einfluss geht möglicherweise auch seine Entscheidung zurück, die Tabletten wieder abzusetzen, damit er wieder der Alte sein kann, denn das ist ihm offenbar wichtiger als die guten Noten in der Schule.

 

   Eine eindrucksvolle, eindringliche Milieu- und Menschenstudie, sehr dicht dran insgesamt, wie gesagt grandios gespielt, sensibel in Szene gesetzt, und ein sehr schönes Beispiel für einen Jugendfilm aus dem Hier und Jetzt, der ohne störende Pädagogik auskommt und schwierige Themen dennoch wirkungsvoll rüberbringt. (13.11.)