Lore von Cate Shortland. Australien/BRD/England, 2012. Saskia Rosendahl, Nele Trebs, Kai Malina, Mika Seidel, André Frid, Ursina Lardi, Hans-Jochen Wagner, Eva-Maria Hagen, Sven Pippig
Deutschland im Jahre Null bzw. zur Stunde Null – das hat’s schon gegeben im Kino, mehrfach sogar, einmal ganz frisch kurz nach dem Krieg von Roberto Rossellini und einmal (typisch!) ein paar Jahrzehnte später von Edgar Reitz. Beides auf ihre Weise gute bis sehr gute und auf jeden Fall auch sehr ehrenwerte Filme, in ihrer Wirkung aber keineswegs vergleichbar mit „Lore“ von Cate Shortland, jedenfalls was mich betrifft. Dies ist ein ganz und gar großartiger Film und einer der besten, wenn nicht sogar der beste über diese Zeit, den ich bislang gesehen habe (und da kommen schon ein paar zusammen...). Da muss tatsächlich eine Filmemacherin aus Australien kommen, um den ultimativen Film zum Thema Deutschland anno 45 zu machen...? Und: Da muss unsereiner tatsächlich bis raus in die Provinz fahren, um ihn überhaupt mal sehen zu können, und das, obwohl wir doch angeblich zwei so tolle Programmkinos in unserer kleinen Stadt besitzen...? Also erklingt auch im neuen Jahr das alte Lied: Im Kino ab 1.11.12 – aber nicht in Bielefeld!
„Lore“ beschreibt die Odyssee von fünf Geschwistern durch ein zerstörtes Land. Die Eltern sind Nazis, die Familie bezieht noch schnell eine abgelegene Behausung im Schwarzwald, Papiere werden verbrannt, Spuren verwischt, der Papa in Uniform erschießt den deutschen Schäferhund, die Mama verachtet ihn zwar, macht sich aber selbst später davon, vermutlich um der sicheren Verhaftung zu entgehen, und weist die älteste Tochter Lore an, ihre Geschwister zur Oma zu bringen, die oben auf einer Hallig im Watt lebt. Eine von vornherein aussichtslose Mission: Das Land liegt in Schutt und Asche, der Führer ist tot, die Nazis sind auf der Flucht, die Lager werden befreit, Nahrungsmittel sind knapp, und in dieser Zeit geht es eigentlich nur um eines, nämlich überleben um jeden Preis. Lore, selbst erst fünfzehn, hat eine etwas jüngere Schwester, zwei kleine Brüder und ein Baby, und zu fünft haben sie keine Chance. Sie treffen auf Thomas, scheinbar einen Juden, der ihnen hilft, den amerikanischen Behörden zu entkommen, denn sie haben keine Papiere und können sich somit nicht von einer Besatzungszone zur anderen bewegen. Lore lernt von ihm, sich Situationen anzupassen, sie lernt auch, alles zu vergessen, was sie jemals über Menschlichkeit gewusst zu haben glaubte. Sie verlieren unterwegs einen der Zwillinge, der im Wald erschossen wird, Lore wird zur Mittäterin, hilft, einen Mann zu erschlagen, weil sie mit dessen Boot über einen Fluss müssen, sie lernt, sich als Frau anzubieten, um zu bekommen, was sie braucht. Thomas trennt sich später wieder von ihnen, und Lore erfährt von ihrer Schwester, dass er gar kein Jude warm, sondern nur die Papiere eines Toten benutzt hat, um selbst davon zu kommen. Zu viert schaffen sie es tatsächlich bis an die See, werden von der Oma aufgenommen, doch für Lore ist eine Welt zusammengebrochen, und als ihr die Oma noch immer mit den alten Parolen kommt, beginnt sie erstmals, sich aufzulehnen.
Dieser Zusammenbruch findet natürlich auf sehr vielen verschiedenen Ebenen statt. Angefangen mit der Ehe der Eltern, was sich den Kindern aber nur undeutlich mitteilt, und erst später deutlich wird, als die Familie im ganzen zusammenbricht: Die Mutter verlässt ihre Kinder, möglicherweise, um sie vor dem Zugriff der Besatzer zu schützen, möglicherweise aber auch, um ihre eigene Haut zu retten. Für uns Zuschauer ist es häufig schwer bis unmöglich, uns ein klares Bild und erst recht ein klares Urteil zu machen, was schon zeigt, wie überragend gut es Cate Shortland gelungen ist, die Perspektive der Kinder zum Ausgangspunkt für den gesamten Film zu nehmen. Diese Kinder sind stramm nationalsozialistisch erzogen worden, vor allem Lore als die Älteste hat die Ideologie und ihre “Werte“ vollkommen verinnerlicht und lebt sie mit Selbstverständlichkeit und Stolz aus. Und so sind die ersten Bilder aus den befreiten KZs unweigerlich Propaganda der Amis, so ist Thomas weiterhin nicht mehr als ein dreckiger, verlogener Jude, und so klammert sie sich wider besseres Wissen an die Illusion, die alte Ordnung werde vielleicht doch bald wieder hergestellt und ihr Vater zurückkommen. Die Reise durch die Finsternis wird für sie zugleich ein Prüfstein für alles, an das sie jemals geglaubt hat und das nun in Trümmern liegt. Denn die Stunde Null hat mit Frieden nichts zu tun, eher mit dem totalen Kollaps jeglicher Ordnung. Jegliche Struktur ist verloren gegangen, die Städte sind sowieso zerstört, auf dem Land aber bietet sich ebenfalls ein desolates Bild, Massenflucht, Plünderungen und maßlose Gewalt hinterlassen überall blutige Spuren, Frauen werden als Kriegsbeute geschändet, Hunger und Not sorgen dafür, dass man sich nicht gegenseitig hilft, sondern dass ein jeder versucht, irgendwie zurechtzukommen, und die sogenannten Befreier ziehen schon wieder neue Grenzen, an denen sie bewaffnet patrouillieren, was zu noch mehr Not und Gefahr führt. Selten oder nie ist es einem Film gelungen, dieses wahnwitzige Chaos, das damals in Deutschland geherrscht haben muss, wenn vielleicht auch nur für kurze Zeit, so intensiv und nachdrücklich darzustellen. In diesem Chaos muss Lore irgendwie versuchen, ihre Geschwister und sich durchzubringen, und sie muss auch versuchen, zu begreifen, was geschehen ist und warum, und eine neue Orientierung für sich zu finden. Dieser Prozess wird diskret aber doch klar und deutlich nachgezeichnet, das Festklammern an Sicherheit gebenden Überzeugungen und Ideologien, die erste Unsicherheit, die ersten Zweifel, die furchtbaren Erschütterungen und schließlich im Haus der Oma die verzweifelte und zugleich entschlossene Auflehnung, versinnbildlicht in der Zerstörung der Porzellantierchen, die immer für trautes Heim, Glück allein standen. Shortland tut sehr gut daran, in diesem Moment aufzuhören und nicht zu versuchen, Lores weiteren Weg zu zeigen, denn sie ist erst ganz am Anfang, und es kann ebenso gut sein, dass sie nicht die Kraft oder die Möglichkeit hat, sich mit ihrer Kindheit und ihrer Erziehung auseinander zu setzen, zumal dies in der Nachkriegszeit und auch noch in den 50ern vielfach nicht sehr gefragt war – doch das wäre auch eine ganz andere Geschichte geworden.
Gestalterisch ist dieser Film überragend, und das ist besonders wichtig. Er überzeugt in allen Bereichen, allen voran die grandiosen Darsteller (vor allem Saskia Rosendahl in ihrer extrem schwierigen Rolle), aber auch die Kamera ist enorm wichtig, sie sorgt für die fieberhaft intensiven, eindringlichen Bilder, die so unmittelbar wie nur selten Chaos, Angst, Verunsicherung und nur gelegentlich Momente der Ruhe ausdrücken und maßgeblich an der Wirkung dieses Films beteiligt sind. Eines Films, der schon jetzt ganz sicher als einer der allerbesten dieses Jahrgangs feststeht, der ein sehr komplexes und schmerzhaftes Thema in jeder Hinsicht angemessen transportiert, der wehtut und bewegt und der wohl niemanden gleichgültig lassen wird. Tja, und wenn ich an thematisch annähernd vergleichbare deutsche Produktionen denke, fehlt denen irgendwie was. Und das zu ergründen, wäre sicherlich eine heikle Angelegenheit... (6.1.)