Midnight’s Children (Mitternachtskinder) von Deepa Mehta. Kanada/England, 2012. Satya Bhabha, Shriya Saran, Siddharth Narayan, Darsheel Sarfary, Anupam Kher, Shabana Azmi, Seema Biswas, Samrat Chakrabarti, Rajat Kapoor, Soha Ali Khan, Rahul Bose, Anita Majumdar

   Ein indischer Film mit nur knapp hundertfünfzig Minuten Laufzeit – muss wohl ein Kurzfilm sein, oder die für westliche Sehgewohnheiten gekürzte Fassung. Stimmt natürlich nicht, ist zum einen der Film einer Regisseurin, die seit Jahren die Brücke zwischen den Hemisphären schlägt, und zum anderen die Verfilmung eines Romans von Salman Rushdie, also ganz so schlimm wird’s nicht, keine Bange, hier gibt’s nicht das volle Brett Bollywood. Was jetzt nicht heißen soll, dass man diesen Film einfach mal so nebenbei weggucken kann, ganz und gar nicht.

   Ein fulminanter Galopp durch sechzig Jahre indischer Geschichte, randvoll mit flammender Symbolik, Magie, Farben, Emotionen. Die Geschichte des Jungen Saleem, der just um Mitternacht an jenem Tag geboren wurde, da Indien endlich seine Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft bekam, am 15. August 1947 nämlich. Mit ihm wurden noch viele Kinder zu dieser Stunde geboren, die sogenannten Mitternachtskinder, jedes von ihnen mit einer besonderen Gabe ausgestattet, und nur Saleem hat die Fähigkeit, diese Kinder zusammen zu rufen, mit ihnen zu sprechen. Zwei von ihnen sind besonders wichtig: Parvati, die er liebt und die er viele Jahre später für allzu kurze Zeit zur Frau haben wird, und Shiva, mit dem ihn eine besondere Geschichte verbindet, denn die Hebamme Mary spielte einst Schicksal, beseelt von den Sprüchen ihres politisch engagierten Freundes, und vertauschte die Neugeborenen: Der aus reichem Hause stammende Shiva gelangte so in die Obhut eines Bettlers, während Saleem, der Sohn eben jenes Mannes, fortan ein Leben in Wohlstand und Sicherheit genießen durfte. Die Rivalität und gegenseitige Abneigung der beiden, die von Shivas ausgeht, prägt die Zusammenkünfte der Mitternachtskinder, die sich nicht darauf verständigen können, ihre Talente für die Zukunft und zum Wohle ihres frisch  geborenen Landes einzusetzen. Statt dessen zerfällt die Gruppe in ihre Einzelteile, weil jeder auf den eigenen Vorteil, die eigene Macht aus ist, und es gehört nicht viel Phantasie dazu, diese Verhältnisse auf das Land im ganzen zu übertragen, dessen turbulente und wandlungsreiche erste drei Jahrzehnte bis 1977 hier beschrieben werden mit einer Mischung aus Enttäuschung, Wut, Trauer und letztlich dann doch Hoffnung. Es kommen die zermürbenden Kriege mit Pakistan, es kommen Armut, Notstandsgesetze (Frau Indira Gandhi wird besonders heftig und nachhaltig attackiert), es kommen Unrecht und Verfolgung. Saleems vermeintliche Familie kommt im Krieg um, er lebt lange Jahre in Pakistan bei seiner Tante, wird eine Art Heimatloser, der eigentlich nur seinen Frieden will. Stattdessen fällt er in Armut, verliert fast sein Leben, verliert auch seine geliebte Parvati durch Krieg und Gewalt, und steht an seinem dreißigsten Geburtstag dennoch da, mit seinem kleinen Sohn im Arm, und hofft immer noch darauf, dass aus diesem Land, das wie er einst ein Kind der Liebe war.

   Eine bittere Lektion, die man empfangen könnte, wenn man denn will, ist diese: Es liegt nicht in der Natur des Menschen, einfach in Frieden miteinander zu leben. Wir können es nicht. Und wollen es nicht. Unsere Natur spricht dagegen. Unsere Gier nach Macht, unsere Missgunst, unser Neid, unser Hass, mal in Form religiösen Eifers, mal in Form territorialer Begehrlichkeiten. Sicherlich ist Rushdies Bild der Mitternachtskinder grundsätzlich naiv, aber es ist stark und zwingend: In diesem einen Moment, um Mitternacht im August 1947, bestand die Chance auf etwas Gutes und Neues, und es gab vermutlich einige (nicht die Realisten natürlich!), die mit großen Hoffnungen auf das neue, freie Indien schauten. Es gab nicht nur Hoffnungen, es gab auch jede Menge Potential, dafür stehen diese Kinder mit ihren magischen Künsten, die sämtlich dazu hätten beitragen können, dem Land zu helfen, es aufzubauen und zu gestalten. Was ist daraus geworden, welche dieser Potentiale sind genutzt worden? Keine! Stattdessen wühlt man sich in die vorprogrammierte und von den Scheißbrits in ihrer ganzen Blindheit und Dummheit sozusagen vorbereitete Auseinandersetzung um die Provinzen Kaschmir und später Ostpakistan (sprich Bangladesh), weil es dem Menschen scheinbar leichter fällt, etwas zu zerstören, als etwas aufzubauen. Die destruktiven Kräfte sind einfach stärker als die konstruktiven, das bekommt Saleem wieder und wieder in unterschiedlichster Form zu spüren, in dem er wie viele andere auch durchgewirbelt wird, mitgerissen wird im Strudel der Geschichte, und am Ende sind aus den Mitternachtskindern, einst den vielversprechendsten Kindern Indiens, zerlumpte Häftlinge geworden, dem Regime Indira Gandhis ein Dorn im Auge und deswegen einkassiert, armselige, hohläugige Gestalten, die nur noch ums Überleben kämpfen, statt selbst zu gestalten und vorzudenken.

   Wer wie ich von der indischen Geschichte leider wenig Kenntnis hat (musste ich jetzt schnell noch bei Wikipedia nachholen, haha), wird vieles in diesem Film nicht oder nur im Ansatz verstehen. Der immer wieder aufflammende Krieg mit Pakistan, die Differenzen zwischen den großen religiösen Gruppierungen, vor allem die Herrschaft Indira Gandhis, die hier als eine selbstherrliche Diktatorin auftritt, was sicherlich nicht jedermann so sehen würde, was Rushdie aber ganz offensichtlich ein deutliches Anliegen ist. Rushdie war eng an der Entstehung des Films beteiligt, hat eine erste Fassung seines umfangreichen Romans erstellt, spricht auch den begleitenden Kommentar im Original, sodass man davon ausgehen kann, dass der Film weitgehend seine Sichtweise und Interessen widerspiegelt. Deepa Mehta ist es in ihrer Umsetzung meiner Meinung nach gut gelungen, die beiden essentiellen, starken und zugleich rivalisierenden Gefühle zum Ausdruck zu bringen und immer wieder gegeneinander zu halten: Hoffnung und Trauer. Trauer darüber, dass in den ersten dreißig Jahren der Geschichte Indiens als freies Land soviel versäumt und zerstört wurde, Hoffnung dennoch darauf, dass die Inder sich vielleicht doch noch auf ihre Möglichkeiten und ihre Identität besinnen und etwas machen aus dem, was sie sind und können. Ein frommer Wunsch, wenn man sich die Gegenwart ansieht (und auch den Stand der Dinge im Pakistankonflikt!), aber was sollte sonst bleiben, wenn nicht die Hoffnung.

 

   Abgesehen von alledem ist dies ein sattes Stück vitaler Kinokunst, mitreißend, leidenschaftlich, dramatisch, poetisch, manchmal ein wenig versponnen und mystisch, mal traurig und mal fröhlich. Ein bisschen Bollywood ist schon dabei, gottseidank, finde ich, und anderes wäre auch nicht sinnvoll gewesen. Natürlich verkürzt Mehta viele Details aus Rushdies Roman, es kann nicht gelingen, über sechshundert üppig fabulierende Buchseiten in einem einzigen Film unterzubringen, und natürlich hätte ich ein paar Motive gern etwas deutlicher ausformuliert gesehen, vor allem die Mitternachtskinder, die in Proportion gesehen eher einen ungeordneten Raum einnehmen. Und natürlich ist dies ein Film, der unsere Aufmerksamkeit fordert, der wie viele indische Filme allein schon die Wahrnehmung fordert, weil so viel passiert, weil soviel gezeigt wird und in Bild und Ton dauernd was los ist. Andererseits – man schaue sich jede x-beliebige Hollywoodcomicproduktion an, die funktionieren im Prinzip genau so, nur eben ohne Hirn und Substanz. Dieser Film hat von beidem, er hat Temperament und Gefühl, er hat ein Anliegen, das er deutlich transportiert und er hat viele starke Momente. Dass wir als europazentrierte Wessis nicht alles wissen und verstehen, liegt nicht in seiner Verantwortung, im Gegenteil, Filme wie dieser können auf durchaus verträgliche Art helfen, diese ungesunde Zentriertheit mal wieder etwas zu relativieren. (3.4.)