Baad el Mawkeaa (Nach der Revolution) von Yousry Nasrallah. Ägypten/Frankreich, 2012. Menna Shalabi, Bassem Samra, Nahed El Sebaï, Salah Abdallah, Phaedra, Abdallah Medhat, Momen Medhat

   Ausgangspunkt: Der berühmt gewordene Tahir-Platz in Kairo, 2. Februar 2011, eine Demonstration gegen Mubarak und seine Schergen und für Demokratie und Freiheit. Plötzlich brechen Reiter zu Pferd und Kamel in die Menschenmenge, sprengen sie auseinander, es kommt zu Schlägereien und Blutvergießen. Wir sehen auch, wie einer der Reiter zu Fall kommt und von der wütenden Menge in die Mangel genommen wird. Dies ist Mahmoud und er wird uns noch beschäftigen: Er wohnt mit seiner Familie in der isoliert, regelrecht eingemauert liegenden Siedlung Nazlet im Schatten der Pyramiden. Dort leben nur Leute wie er, die vom Tourismus abhängig sind und nun erleben, dass die jüngsten Unruhen im Land ihre Existenzgrundlage gefährden, weil die Touristen fortbleiben. Also nutzt die Regierung diesen Umstand, Leute wie Mahmoud aufzuhetzen gegen die Demonstranten und ihnen einzureden, die, die für Freiheit kämpfen, seien eine Bedrohung für die ganze ägyptische Wirtschaft. Mahmoud erkennt seinen Irrtum in all seiner Bedeutung erst, als er die liberale, feministisch engagierte Journalistin Reem trifft, die ebenfalls für die Revolution spricht und sich spontan in den forschen Reitersmann verguckt. Ihre Liaison kommt nicht über einen verstohlenen Kuss hinaus, doch bleiben in beiden Freunde, und vor allem freundet sich Reem mit Mahmouds Ehefrau Fatma und ihren beiden Söhnen an und schlägt damit eine Brücke quer über alle Gesellschaftsschichten, denn sie bewohnt ein schickes Appartement mit Blick auf den Nil, und Mahmouds Familie lebt wie erwähnt ärmlich und archaisch. Beide Seiten lernen voneinander: Reem macht Mahmoud und Fatma die wahre Dimension der Revolution klar und wie wichtig es ist, Stellung zu beziehen, ungekehrt lernt sie, wie die Dinge aussehen, wenn man nicht zu intellektuellen, aufgeklärten, liberalen Klasse des Landes gehört und vor allem ökonomisch total abhängig ist. Diese Abhängigkeit wird personifiziert durch den fetten Großgrundbesitzer Haj Abdallah, dem praktisch das ganze Viertel mitsamt der dort lebenden Menschen gehört und der seine Macht immer wieder für seine Ziele und Zwecke benutzt. Er will Mahmoud sogar dazu anstiften, Reem loszuwerden, wenn nötig mit einer Waffe, doch hier geht er zu weit und provoziert ungewollt Mahmouds Trotz, der schließlich dazu führt, dass sich am Ende alle auf dem Tahir-Platz wiederfinden, diesmal alle auf der gleichen Seite. Mahmoud wird jedoch schwer, vielleicht sogar tödlich verletzt.

   Ein fantastisch vielgestaltiges Gebilde zwischen ganz banaler Romanze, Dreiecksgeschichte, kritischer Sozialstudie und politischem Zeitbild, das maßgeblich getragen wird von den ebenso fantastischen Hauptfiguren und einem Drehbuch, das den Dingen oftmals einfach ihren Lauf zu lassen scheint. Viele Szenen wirken spontan, nur ungefähr in den allgemeinen Erzählfluss integriert, und eine wirklich geschlossene, stramme Dramaturgie ist nirgendwo zu finden. Und gerade deshalb wirkt der Film so beeindruckend, so mittendrin, so spannend, launisch und unberechenbar wie die Situation, in der er entstanden ist, gerade zum Höhepunkt der Unruhen in Ägypten. Natürlich ist dies kein Hurrahgesang auf die Revolution, sondern ein für viele Geschmäcker viel zu differenziertes und komplexes Porträt einer Gesellschaft, die in diesem Akutzustand vor allem das Produkt jahrzehntelanger diktatorischer Herrschaft ist. Es ist ganz einfach, wie Machiavelli es bereits erkannte: Teil und herrsche. Spalte das Volk in viele verschiedene Gruppen und spiele diese bei Bedarf gegeneinander aus. Auch die Ägypter sind alles andere als eine homogene, konsensgeleitete Gesellschaft, ganz im Gegenteil. Die meinetwegen etwas pädagogische oder schematische Anordnung der Hauptfiguren in diesem Film empfand ich diesmal als sehr hilfreich, weil sie genau das veranschaulicht: Auf der einen Seite die säkulare, modern eingestellte Reem (die auch noch von ihrem Mann getrennt lebt), auf der anderen Seite der vergleichsweise schlicht wirkende Mahmoud, hochfahrend, leicht beeinflussbar und von vollkommen anderen Bedürfnissen und Nöten getrieben als Reem und ihresgleichen. Die können gegen Mubarak schreien, weil sie wirklich etwas zu gewinnen haben, wohingegen Mahmoud und die anderen aus Nazlet vor einer existentiellen Bedrohung stehen, denn wenn die Verhältnisse im Land weiter unsicher und chaotisch bleiben, werden auch die Touristen nicht kommen. Wie wichtig es ist, diese grundverschiedenen Perspektiven zu vereinen, um wirklich wirksam gegen das Alte zu kämpfen und auch die Substanz für einen Neuanfang zu haben, wird in Yousry Nasrallahs Film nachdrücklich und immer wieder thematisiert. Dabei wirkt der Film keineswegs pessimistisch, sondern in seiner Grundüberzeugung durchaus voll auf Seiten der Revolution, nur eben skeptisch und wach genug, um auch die Schwierigkeiten zu sehen, wenn es darum geht, das alte Regime durch irgendeine neue Struktur zu ersetzen. Die gesellschaftliche Bestandsaufnahme geht sehr tief, beleuchtet Details wie Gewalt an Schulen, alte Werte und Vorstellungen von Mann und Frau, auch die Rolle der Medien. Ein einziger youtube-Clip, der zeigt, wie Mahmoud vom Pferd stürzt, könnte etwa ausreichen, um ihn für immer aus der alten Gemeinschaft auszustoßen oder ihn zumindest auf lange Zeit zur Zielscheibe von Hohn und Spott zu machen. Die öffentliche Meinung ist leicht manipulierbar, erst recht, wenn sie so extrem emotional ist wie in Kairo – auch in diesem Film gibt es keinen Disput, der nicht zumindest in hitzigem Geschrei endet. Reem als Feministin trifft auf Fatma, die es hinnimmt, von ihrem Gatten hin und wieder geohrfeigt zu werden. Reems Freunde wiederum schauen verächtlich herab auf Mahmoud und seinesgleichen und haben für Reems kurzes Techtelmechtel und Unverständnis und Sarkasmus übrig. Zudem sind die beiden Protagonisten für sich genommen alles andere als strahlende Helden, sondern im Gegenteil sehr zwiespältige und fehlerbehaftete Gestalten, wie wir alle halt, was es auch so leicht macht, uns mit ihnen zu identifizieren.

 

   Dies ist grandioses, kühnes Kino, das gerade durch seine vermeintliche Unvollkommenheit und fehlende Glätte so beeindruckt. Die Hauptdarsteller sind hinreißend, die Bilder aus Kairo zeigen eine monströse und zugleich faszinierende Stadt zwischen Antike und Moderne, und die Sprunghaftigkeit und Holprigkeit der Geschichte versinnbildlicht eine Zeit, in der sich eine alte, seit Ewigkeiten zementierte Ordnung plötzlich in Auflösung befindet und niemand richtig weiß, was danach kommen soll, weshalb sich in die begeisterten Rufe nach Mubaraks Umsturz auch viel Angst und Unsicherheit mischen. Ob Ägypten wirklich eine effektive Abkehr von dieser alten Ordnung realisieren kann, bleib angesichts der hier dargestellten Verhältnisse fast fraglich. Vielleicht erweisen sich gerade die enormen Gräben zwischen den einzelnen Teilen der Gesellschaft als unüberwindbar. Oder vielleicht werden die alten Machthaber noch immer im Hintergrund ihre Fäden ziehen. Oder vielleicht werden sich die neuen Machthabe als ähnlich korrupt und machtgierig erweisen wie die alten (sind ja auch nur Menschen). Oder vielleicht wird die Gesellschaft insgesamt den Sprung in die Moderne gar nicht auf die Reihe kriegen. Wir werden sehen – hoffentlich! Das ägyptische Kino wird auch weiterhin gefragt sein. (11.6.)