Prisoners von Denis Villeneuve. USA, 2013. Hugh Jackman, Jake Gyllenhaal, Terrence Howard, Viola Davis, Maria Bello, Paul Dano, Melissa Leo, Dylan Minnette

   Zwei kleine Mädchen verschwinden an Thanksgiving, und als sie nicht wieder auftauchen, geht man von einer Entführung aus. Bald wird ein geistig gehandicapter junger Mann als dringend verdächtig festgenommen, muss aber aus Mangel an Beweisen wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Einer der beiden betroffenen Väter hält ihn dennoch für schuldig, bringt ihn in seine Gewalt und versucht mit allen Mitteln, den Aufenthaltsort der beiden Mädchen von ihm zu erfahren. Der andere Vater ist zunächst entsetzt, hilft dann aber doch mit. Der ermittelnde Polizeibeamte kann ebenfalls nicht akzeptieren, dass der Fall nicht gelöst werden kann und heftet sich an einen verdächtigen jungen Mann, der ihm bei einer Mahnwache für die Mädchen auffällt. Er stößt auf einen weiteren Geistesgestörten, der ganz offensichtlich im Besitz einiger Kleidungsstücke der Mädchen ist. Die beiden werden schließlich doch noch lebend gefunden, und der beamte kann die wahre Täterin – die Tante des ersten verdächtigen – gerade noch daran hindern, eines der Mädchen zu töten. Am Schluss sieht es auch so aus, als könne er den Vater noch retten, den die mörderische Tante ebenfalls in ihre Gewalt gebracht hatte.

   Klingt wie eine reichlich wüste Geschichte, ist sie bei Licht besehen vielleicht auch, aber Villeneuve hat ja mit dem fabelhaften „Die Frau, die singt“ nachdrücklich bewiesen, dass er auch aus den abenteuerlichsten Konstruktionen großes Kino zu machen vermag. Und genau das ist ihm hier erneut gelungen – großes Kino, ganz großes sogar, ein Drama von unerhörter Intensität und Wucht, wobei die Wucht eben nicht daraus resultiert, dass Villeneuve besondere filmische Spektakel bemüht, sondern ganz im Gegenteil daraus, dass er einen ruhigen, unerbittlichen Malstrom konstruiert, der uns zweieinhalb Stunden buchstäblich an den Kinositz nagelt.

   Zunächst ist dies natürlich ein Kriminalsdrama: Zwei Mädchen verschwinden, und man muss aus gutem Grund das Schlimmste befürchten. Der Wettlauf mit der Zeit ist in solchen Fällen besonders fieberhaft, die Verzweiflung der Eltern wächst mit jedem Tag in gleichem Maße, wie die Wahrscheinlichkeit, die Kinder noch leben zu finden, schwindet. Der Detektiv Loki ermittelt zunächst betont besonnen, versucht, die aufgeheizten Gemüter zu beruhigen, besonders die des Vaters Dover, der immer gleich zur Hand, wenn es darum geht, die Ermittlung in die eigene Hand zu nehmen. Hier setzt dann das Psychodrama ein, ein ständiges Ringen miteinander auf der Suche nach der Lösung. Loki und Dover ringen besonders intensiv, aber auch der verdächtige Jones wird buchstäblich zerrissen – wie sehr, erfährt man erst gegen Ende wirklich. Die hinterbliebenen Familien ringen um ihren Fortbestand, Mutter Dover hängt an Tabletten, Papa Dover greift nach Jahren der Abstinenz wieder zur Flasche, während Familie Birch auf den ersten Blick heiler bleibt, aber auch hier trügt der Schein. Beide Eltern wissen, das Dover Jones tagelang grausam misshandelt, beschließen aber, sich nach guter amerikanischer Sitte nicht einzumischen und sich weder auf seine Seite noch gegen ihn zu stellen, so als wäre das überhaupt möglich. Ein drittes Motiv, das während des ganzen Films immer auf einem Nebengleis mitlief, gewinnt dann zunehmend an Profil, erst recht, als die Täterin mitsamt ihrer Geschichte zutage tritt, und damit kommt dann auch noch das Gesellschaftsdrama hinzu. Der Kanadier Villeneuve blickt auf ein kleinstädtisches Amerika (in diesem Fall Pennsylvania, ist aber eigentlich egal), in dem die Familien Dover und Birch ebenso fest verwurzelt sind wie Detektiv Loki oder alle anderen beteiligten. Die monströse Mrs. Jones ist lediglich die dunkle Seite einer Medaille, die sich hier zum Beispiel durch die klassischen Männerrituale auszeichnet (Vater und Sohn gehen gemeinsam zur Jagd, Sohn erlegt unter den Augen des Vaters sein erstes Wild, Hemingway wäre stolz) oder durch eine sehr ausgeprägte Wagenburgmentalität (Papa Dover legt im Keller besessen Vorräte für den Fall einer Naturkatastrophe oder irgendeiner Invasion an), oder eben durch eine ebenso ausgeprägte Religiosität, die einerseits diese Geschichte entscheidend initiiert, die andererseits aber auch durch die Handlungen der Beteiligten grausam ad absurdum geführt wird. Mr. und Mrs. Jones legen die systematischen Kindesentführungen und –tötungen als Bestrafung Gottes an, fordern das Böse im Menschen heraus, und sie werden bestätigt durch Männer wie Dover, die all ihre moralischen Grundsätze fahren lassen und sich geradezu in eine Raserei hineinsteigern, die alle Begriffe von Mitmenschlichkeit negiert. Dover ist einerseits ein durchaus frommer Mann (man hört ihn mehrmals das Vaterunser aufsagen), er ist andererseits aber auch getrieben von dem Anspruch an einen klassischen Familienvater, seine Familie jederzeit beschützen zu müssen, und so kommt es, dass er bald nicht mehr allein von der Sorge um seine Tochter getrieben wird, sondern ebenso sehr von der Verzweiflung über sein eigenes Versagen, das täglich größer und schrecklicher wird, weil er selbst natürlich auch Zweifel an Jones’ Schuld hat und ihn dennoch prügelt und quält, weil er keinen anderen Weg weiß. Eine kontroverse, komplexe, starke Rolle, die Hugh Jackman mit enormer Körperlichkeit und Kraft sehr eindrucksvoll gestaltet, wobei ich feststellen muss, dass ihm keiner der anderen Darsteller in irgendeiner Weise nachsteht. Das eindrucksvolle und in jeder Phase glaubwürdige Ensemble ist besonders hervorzuheben, da solch eine Geschichte unter anderen Umständen schnell in Banalität und Kolportage versackt wäre.

 

   Das wichtigste ist hier aber ganz klar, wie Villeneuve die Geschichte inszeniert hat, wie konsequent er sein Timing, sein Konzept durchhält, wie er von Beginn an eine dunkle, tief in den Magen ziehende Spannung erzeugt und sie bis zum bitteren Ende stetig steigern kann, wie souverän er die einzelnen Handlungsfäden verknüpft, wie überzeugend er Mensch und Milieu in immer neuen Details abbildet. Einen spannenderen Film habe ich dieses Jahr noch nicht gesehen und werde ich wohl auch nicht mehr sehen, einen besseren aus den USA übrigens auch nicht. Wie im Vorgänger „Incendies“ hat Villeneuve was das Dramapotential angeht in die Vollen gelangt, wie im Vorgänger hat sich das Risiko vollauf gelohnt, wie der Vorgänger ist auch dies ein Film geworden, den ich so schnell nicht vergessen werde. (16.10.)