Vergiss mein nicht von David Sieveking. BRD, 2012.
Eine Dokumentation, eine private Geschichte, eine Familiengeschichte. Über ein Jahr – etwas mehr oder weniger – begleitet David Sieveking seine an Alzheimerdemenz erkrankte Mutter Gretel, die 2012 im Alter von 74 Jahren stirbt. Er begleitet auch den Vater, der seine Ehefrau pflegt, sie kurzzeitig in eine Seniorenresidenz bringt, um sie dann doch wieder zu sich nach Haus zu holen und mit der Unterstützung eine aus Litauen importierten Pflegekraft bis zum Schluss zu versorgen. Er beobachtet sich selbst, seine ältere Schwester, seine Tante, seine Großmutter, andere Freunde und Bekannte aus früheren Zeiten, wie sie mit der zunehmend verwirrten und verfallenden Frau umgehen, wie sie alle ein Stück Normalität und Selbstverständlichkeit herzustellen versuchen. Er begleitet die Mutter von Frankfurt nach Stuttgart, wo sie aufwuchs und schließlich in die Schweiz, wo der Vater vorübergehend Urlaub vom Alltag macht. Er versucht zu erkunden, wer die Mutter wirklich war und auch wie die Ehe seiner Eltern beschaffen war. Eine späte Spurensuche also, erst vorsichtig, unsicher, später dann immer neugieriger und offener, stets aber voller Respekt für seine Eltern, die in den 60ern und 70ern sicherlich einen etwas alternativen Lebens- und Eheentwurf ausprobiert und nicht immer Glück damit gehabt haben. Zugleich ist dies eine Hommage an eine intellektuelle, eigenwillige, politisch interessierte und engagierte, feministisch aktive Frau, verwurzelt im SDS, den 68ern, den Anti-Vietnamkriegsdemos, der Frauenrechtsbewegung der 70er, von der nun in dieser Form nichts mehr geblieben ist. Unmöglich scheint es, die Bilder von früher mit denen von heute zu verknüpfen, und ebenso unwidersprochen wie unversöhnlich steht die Feststellung des Vaters, er habe sich sein Leben nach der Berufstätigkeit ganz anders vorgestellt: Bildung und Reisen nämlich, und stattdessen gibt es nun Körperpflege, Inkontinenzversorgung und den ebenso tapferen wie vergeblichen Versuch, die demente Gattin irgendwie in der Spur zu halten. Frustration und Verlust konkurrieren latent andauernd mit Liebe und Fürsorge, und die Familie Sieveking begeht nicht den Fehler, dies leugnen zu wollen. Hinzu kommt, dass der jüngste Sohn David bei seinen Recherchen ein zunehmend komplexes, will sagen kontroverses Bild von seinen Eltern bekommt, die sich der sogenannten „offenen Zweierbeziehung“ verschrieben hatten und oft genug nur wegen ihrer drei Kinder zusammen geblieben sind. Sie hat Affären, er hat Affäre, muss aber spät erkennen, dass er im Gegensatz zu ihr nie imstande war, deutlich Prioritäten zugunsten der Familie zu setzen. Manchmal war es auch eine Frage des Timings: Just in dem Moment, da sie sich endgültig für die Familie und für die Ehe entschieden hatte, war er drauf und dran, sich wegen einer anderen Frau scheiden zu lassen. All dies spielt nun zwischen den beiden keine Rolle mehr, doch ihr Sohn sieht die beiden sicherlich nicht mehr mit den gleichen Augen.
Sieveking erhebt mit seinem Film nicht den Anspruch, Allgemeingültiges über Alzheimer oder die Gesellschaft verkünden zu wollen, er bleibt konsequent bei sich und seiner Familie, bei diesem einzelnen, individuellen Schicksal, das natürlich in sehr vieler Hinsicht als beispielsgebend für viele andere verstanden werden kann, das aber dennoch strikt auf die beteiligten Menschen bezogen bleibt. Für jemanden, der wie ich beruflich sehr häufig mit Demenz, also auch mit Alzheimerdemenz in Kontakt kommt, sind viele Szenen von erschütternder Echtheit. Sieveking ist es hervorragend gelungen, einige ganz typische Symptome der Krankheit, wie sie sich im Verhalten der Betroffenen, in ihrer tiefgreifenden Wesensveränderung äußert, in einigen prägnanten Szenen einzufangen. Das ist abwechselnd entwaffnend komisch und auch wieder tieftraurig, und auch dies kenne ich aus meinem Berufsalltag, der sich ständig zwischen diesen beiden Polen abspielt. Traurig ist der völlige Verlust einer Persönlichkeit und all ihrer Beziehungen, Mut macht die beeindruckende, wenn auch nicht unerschütterliche Kraft ihrer Familie, die sich um sie kümmert und sie pflegt, immer in der Hoffnung auf den einen lichten Moment oder das eine kleine Erfolgserlebnis pro Tag. Dabei gibt es hier keine großen Dramen oder große Gesten, es gibt nur die liebevolle, manchmal auch befremdete oder irritierte Beobachtung und Zuwendung, getragen von Geduld ebenso wie von immer wieder aufkommender Hilflosigkeit.
Ein in teilweise sehr schöne Bilder gekleidetes zärtliches Porträt einer Frau und ihrer Familie und vielleicht auch eine Reflektion über Versäumtes, über späte Einsichten und darüber, dass man nie aufhört, Menschen, auch die, die einem zeitlebens nahe waren, neu kennen zu lernen. (4.2.)