Boyhood von Richard Linklater. USA, 2014. Ellar Coltrane, Patricia Arquette, Ethan Hawke, Lorelei Linklater, Tamara Joleine, Nick Krause, Jordan Howard

   Mein Credo: Die besten Filme kommen direkt aus dem Alltag. Um nix anderes geht’s hier – zwölf Jahre im Leben des Jungen Mason aus Texas. Mason hat eine Mutter, eine ältere Schwester und einen Vater, der mittlerweile von der Familie getrennt lebt. Zwölf Jahre lang hat Linklater Mason begleitet, jeweils kürzere oder etwas längere Episoden aus dem jeweiligen Lebensabschnitt eingefangen, vom sechsjährigen kleinen Schuljungen bis hin zum achtzehnjährigen Highschoolabsolventen auf dem Sprung ins Collegeleben. Dazwischen alles, was halt so im Leben passiert: Der Alltag mit der alleinerziehenden, gestressten Mutter, die strampelt und studiert, um sich und ihren Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen zu können. Die Wochenenden mit Paps, den sie ein Jahr nicht gesehen haben, weil er in Alaska versucht hat, sich selbst zu finden. Der Alltag zwischen Schule und Spielen mit Freunden, dann neue Partner der Mutter, neue Familien, neue Erfahrungen, neue Enttäuschungen und Trennungen, teilweise auch Schlimmeres (Alkohol, Gewalt), der Alltag mit der neuen Familie des Papa, mit immer neu gebildeten Patchworks, mit der Mutter, die mittlerweile zur Hochschuldozentin geworden ist, im Privatleben aber noch immer mit Vorliebe die falschen Entscheidungen trifft. Mason wird fünfzehn, wächst heran, experimentiert mit bewusstseinsverändernden Substanzen, die Haare werden länger, die Freunde kriegen plötzlich einen Busen, die Games an der allgegenwärtigen Konsole werden härter. Ein introvertierter, eher muffeliger Hänger, kein strahlender Karrieretyp, einer, der eher still seinen Weg sucht und schließlich auch findet. Er will fotografieren, jobbt, müht sich durchs die High School und erlebt eine erste bittere Schlappe mit dem anderen Geschlecht, immer begleitet von Papis schlauen Ratschlägen, denn der kennt sich schließlich ganz genau aus mit den Frauen. Der Abschluss, der Wechsel aufs College, die schluchzende Mama, die plötzlich ihr altes Leben auch hinter sich lassen und ganz neu anfangen muss, der erste Kontakt auf dem College und gleich ein hübsches Mädchen, das ihm lang in die Augen sieht. Mit diesem Bild zweier einander anlächelnder junger Leute endet der Film, schöner und optimistische kann ein Ende nicht sein.

 

   Zwei Möglichkeiten hat man hier: Man bleibt außen vor und langweilt sich zweidreiviertel Stunden lang, oder man taucht total ein und wünscht sich am Schluss, wir könnten Mason noch zwei, drei Stunden auf seinem weiteren Weg durchs Leben begleiten. So ging es mir natürlich, meinetwegen hätte das noch ewig so weitergehen können, und fast hoffe ich schon, dass sich Linklater dazu entschließt, die Chronik des Mason irgendwie fortzuführen, so faszinierend, bewegend, berührend ist sein Film. Und dabei tut er rein gar nichts dazu, diese Wirkung irgendwie zu erzwingen oder zu verstärken, kommt total ohne Effekte oder Melodrama aus, was nicht heißen soll, dass er keine starke Wirkung erzielt, im Gegenteil. Die Wirkung resultiert eher aus unserer eigenen Erfahrung, dem, was wir selbst mitbringen und was uns dazu bringt, zu vergleichen, mitzufühlen, uns zu distanzieren oder zu identifizieren, uns wieder zu erkennen als Junge, Jugendlicher, junger Erwachsener, Wochenendpapa oder alleinerziehende Frau und Mutter. Auf unaufdringliche und dennoch sehr intensive Weise kommt jede der wenigen Figuren zu ihrem Recht, wir sehen sie ebenso älter werden wie wir die Kids aufwachsen sehen. Wir haben teil am Zusammenleben einer Familie, einer Durchschnittsfamilie aus durchschnittlichem städtischem Milieu mit durchschnittlichen Erlebnissen und Problemen, alles ganz normal, nichts, was wir nicht auch schon ähnlich erlebt hätten. Daraus resultiert die große Nähe, die man zu Mason und seiner Familie herstellt, auch wenn man nicht aus Houston oder Austin oder sonstwo in Texas stammt. Schon in der grandiosen Trilogie mit Ethan Hawke und Julie Delpy hat Linklater seine Meisterschaft im Schildern zwischenmenschlicher Situation bewiesen, hier erreicht er nun die Vollendung seiner Kunst. Vom ersten Auftritt der nervigen Schwester, die frühmorgens als Britney Spears posiert bis hin zu den bedrückenden Erlebnissen mit dem neuen Papa sind alle Szenen so dicht und eindringlich wie nur möglich, so typisch amerikanisch im Kontext und dennoch jederzeit erweiterbar, übertragbar auf andere Länder, andere Zusammenhänge, so wie Linklater in vielem ein sehr amerikanischer, dann aber auch ein eher europäischer Regisseur ist, und aus diesem Dualismus schon häufig imponierend Kapital geschlagen hat. Wie er hier mir den Darstellern über zwölf Jahre arbeitet, wie er in jedem neuen Zeitabschnitt sofort wieder die Stimmung findet, die Chemie zwischen den Menschen, auch wenn die sich ständig leicht verändert, wie er uns behutsam mitnimmt zwischen Veränderung und Kontinuität, das ist ganz große Kinokunst und das habe ich so im US-Film eigentlich noch nie gesehen. Ein seltenes, wunderbares Filmerlebnis. (17.6.)